Bereits als Carlo Ratti gegen Ende 2023 mit der Aufgabe des Kurators der Architekturbiennale Venedig 2025 (von 10. Mai bis 23. November) beauftragt worden war, wählte er alarmierende Worte erschreckender Prägnanz: anlässlich seiner neuen Aufgabe sprach er in seinem kurzen Statement von einer „Welt in Flammen“. Worte, die sich nur wenig später durch einige Umweltkatastrophen konkretisieren sollten.
Ratti bezog sich nicht nur auf die erschütternde Realität der herrschenden kriegerischen Konflikte, die Gemeinschaften und Territorien zerstören, sondern vor allem auf die jüngsten Umweltkatastrophen, die weiträumige städtische Strukturen aus dem Gleichgewicht geworfen haben. „Die klimatischen Bedingungen werden immer unerbittlicher. Bei den Bränden von Los Angeles, den Überschwemmungen von Valencia und Sherpur in Bangladesh, der Trockenheit in Sizilien, mussten wir erleben, wie Wasser und Feuer uns mit bislang unbekannter Härte trafen. Das Jahr 2024 hat uns einen besonders kritischen Moment bewusst gemacht: Die Erde verzeichnete die höchsten je gemessenen Temperaturen, die globalen Werte von 1,5 Grad Celsius des Pariser Klimaabkommens von 2016 wurden massiv übertroffen. Innerhalb von nur zwei Jahren hat sich der Klimawandel gefährlich beschleunigt, und stellt somit auch die solidesten wissenschaftlichen Modelle in Frage“, bringt Ratti die aktuelle besorgniserregende Lage direkt auf den Punkt.
Überwinden
„Seit jeher“, so Ratti anlässlich der jüngsten Programmpräsentation zur bevorstehenden Architekturbiennale, „sucht die Architektur eine Antwort auf jene Herausforderungen zu finden, um die klimatischen Bedingungen zu überwinden. Seit der „Urhütte“ war das menschliche Bauen von der Notwendigkeit bestimmt, uns zu schützen, um überleben zu können: Unsere architektonischen Schöpfungen versuchten die Kluft zwischen feindlichem Lebensraum und jenen sicheren und lebenswerten Räumen, die wir alle benötigen, zu überwinden.“ Rattis Konzept setzt auf dieser Problematik an. Denn der bislang dominierende „dynamische Ansatz muss heute auf eine neue Ebene gehoben werden, nicht zuletzt angesichts der immer unerbittlicheren klimatischen Bedingungen“ und einer grundlegend veränderten Welt.

Anpassen
Die Anpassung an die neuen Gegebenheiten erfordere einen radikalen Wandel der architektonischen Praxis. Die diesjährige Biennale mit dem Titel ‚Intelligens. Natural. Artificial. Collective.‘ möchte daher mehrere Generationen und Disziplinen ansprechen, von den exakten Wissenschaften bis zu den Künsten. Architektur müsse das Konzept der Autorenschaft überdenken und integrativer werden, indem sie von den Wissenschaften lernt, zeigt sich Ratti überzeugt: „Architektur muss ebenso flexibel und dynamisch werden wie die Welt selbst, für die sie entworfen wird“.
Der Architektur kommt angesichts der größten Herausforderung unseres Planeten, nämlich der Anpassung an den Klimawandel, eine zentrale Rolle zu. (Carlo Ratti)
Engagieren
„Seit Jahrzehnten versucht die Architektur auf die klimatischen Gegebenheiten, auf die uns begleitende Klimakrise zu reagieren. Architektonische Entwürfe versuchen unsere Auswirkungen auf das Klima einzudämmen und zu mildern. Dieser Ansatz genügt längst nicht mehr. Es ist Zeit, sich für eine Anpassung stark zu machen, mit einer Architektur im Zentrum eines mit Optimismus einzuleitenden und zu steuernden Veränderungsprozesses“, so Ratti. „Der Titel der Biennale ‚Intelligens‘ beinhaltet auch das lateinische Wort ‚gens‘ (Personen) und lädt uns ein, zu experimentieren und über einen auf die Künstliche Intelligenz und digitale Technologien beschränkten Fokus hinauszugehen“.

Ideensuche
Erwartet werden mehr Teilnehmer denn je. Durch die Schließung des Zentralen Pavillons wegen Renovierungsarbeiten wird es nicht nur einen Veranstaltungsort geben. Muss man sich also eine ausufernde und sehr dichte Biennale erwarten?
Auf diese Frage antwortete Carlo Ratti im Rahmen eines Interviews der italienischen Journalistin Valentina Silvestrini (www.atribune.com) wie folgt:„Wahrscheinlich wird es in den Corderie ein wenig eng. Aber nicht extrem, in jedem Fall, interessant. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir 750 Teilnemer:innen zu erwarten haben, die es nach Venedig katapultiert (und einige weitere Mitarbeiter:innen, wir werden also erst bei der Eröffnung sehen, wie viele wir letztlich sein werden). (…) Es wird eine nützliche Dichte, der es gelingen wird, ungeahnte Konnexe herzustellen. Und durch die Verschiebung des Zentralen Pavillons an unterschiedliche Standorte in der Stadt, gewinnen wir viel Platz. So wird ein Teil der Ausstellung auf der Piazza San Marco, ein anderer in der Universität IUAV und an anderen Orten zu sehen sein“.
Verantwortung
Auf den leisen Vorwurf, bei all der einbezogenen Intelligenz – von Künstlern, Köchen, Schriftstellern, Stylisten, Handwerkstreibende oder Personen aus der Landwirtschaft auf die Architektur zu vergessen – gab Ratti folgende Antwort:
„Ich habe diese Kritik bereits wiederholt gehört. Aber in ‚Intelligens‘ ist die Architektur der eigentliche Angelpunkt, sie fordert die anderen Disziplinen ein. Zum ersten Mal werden wir verschiedene Nobelpreisträger:inenn haben, Wissenschaftler:innen, Professor:innen, Schriftsteller:innen, die wichtigsten lebenden Philosoph:innen, die alle in ein und dasselbe Projekt involviert sind. Was wir anbieten, ist keine eskapistische Herangehensweise an die Architektur, die sich ihrer Verantwortung entzieht und sich in andere Wissensbereiche einschleicht. Im Gegenteil: Wir nutzen ihre zentrale Bedeutung – und werden daher in diesem Jahr über die gebaute Umwelt sprechen – über die Notwendigkeit, andere Intelligenzen einzubeziehen, damit diese der Architektur in der heutigen Krise zu Hilfe kommen können“.
Zum ersten Mal wird es das „Space of Ideas“ geben, in dem die Biennale auf die öffentlichen Plätze Venedigs geht. Welcher Aspekt ist Carlo Ratti hierbei der wichtigste?
„Dass die Biennale zeigt, dass Architektur von der Linderung zur Anpassung übergehen muss. Um den Menschen verständlich zu machen, dass der Architektur angesichts der größten Herausforderung unseres Planeten, nämlich der Anpassung an den Klimawandel, eine zentrale Rolle zukommt“.
Carlo Ratti ist der Kurator der 19. Mostra Internazionale di Architettura.
Er ist ausgebildeter Architekt und Ingenieur, promovierte als Fulbright-Stipendiat am MIT und lehrt heute am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und am Politecnico di Milano. Er ist Direktor des Senseable City Lab und Gründungspartner des Architektur- und Innovationsbüros CRA – Carlo Ratti Associati (Turin, New York City und London).
https://carlorattiassociati.com/
Länderbeteiligungen:
Von 66 nationalen Teilnehmenden stellen 26 in den Pavillons der Giardini aus, 25 im Arsenale und 15 im historischen Stadtzentrum von Venedig. 4 neue Teilnehmer sind die Republik Azerbaijan, das Sultanat Oman, Qatar und Togo.
Italienischer Pavillon
in den Tese delle Vergini im Arsenal, unterstützt und gefördert von der Direzione Generale Creatività Contemporanea des italienischen Kulturministeriums, Kuratorin: Guendalina Salimei mit dem Projekt „TERRÆ AQUÆ. L’Italia e l’intelligenza del mare“ (TERRÆ AQUÆ. Italien und die Intelligenz des Meeres).
Venedig, lebendiges Laboratorium
„Da der zentrale Pavillon 2025 saniert wird, wird Venedig nicht nur die Architekurbiennale aufnehmen sondern auch zum lebendigen Laboratorium werden. Die Stadt selbst – eine der verletzlichsten Städte, die dem Klimawandel am stärksten ausgesetzt ist – wird zur Kulisse für eine neuartige Ausstellung, in der sich Installationen, Prototypen und Experimente über die Giardini, das Arsenale und andere Stadtviertel verteilen werden“. (Carlo Ratti)
Architekturbiennale Venedig 2025
10. Mai bis 23. November 2025
https://www.labiennale.org/en/architecture/2025