Längst bedeutet ein nationaler Auftritt auf der Architekturbiennale in Venedig mehr als nur einen Abriss der besten Architekturprojekte des Landes vorzustellen. Diskurs, Teilhabe und Meinungsaustausch stehen daher auch 2025 im Mittelpunkt des Österreichischen Beitrags. Carlo Ratti, der Kurator der diesjährigen Architekturbiennale hat mit seinem Fokus „Intelligens. Natural. Artificial. Collective“ die großen inhaltlichen Themen vorgegeben, denen auch der Österreich-Beitrag mit seiner Ausstellung im Pavillon und dem diskursive Raum im Hof folgt. So geht es darum, Wissen und Erfahrung vieler miteinzubeziehen, um die Entwicklung möglicher zukünftiger Modelle besseren Wohnens voranzutreiben.
Die Kurator:innen Sabine Pollak, Michael Obrist und Lorenzo Romito – allesamt erfahrene Experten des Themas Wohnbau – gründen die „Agency for Better Living“ und legen damit den Fokus auf das Wohnen, auf eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit, exemplarisch am Beispiel zweier Städte: Wien und Rom. „Wir wollen die Biennale nutzen, um im Sinne einer „Intelligens“ das Wissen der beiden Systeme in Wien und Rom mit möglichst vielen anderen Menschen zu teilen. Die Ausstellung ist die Grundlage für eine Diskussion über mögliche Zukünfte eines „Better Livings“, die hoffentlich noch weit über die Dauer der Biennale hinaus andauern wird. Eine der Aufgaben der Agency wird sein, diese Diskussion aufrecht zu erhalten“, proklamieren Sabine Pollak, Michael Obrist und Lorenzo Romito.
Zwei Städte, zwei Systeme
Weltweit bekommt das Grundrecht auf Wohnen eine neue politische Dimension. Der Österreich Pavillon wird sich neben der Ausstellung in einen Diskussions- und Verhandlungsraum verwandeln, in den die Besucher:innen eingeladen sind, mögliche Grundlagen zur Schaffung eines besseren Lebens zu ergründen. Hier treffen sie auf Aktivist:innen, Bewohner:innen, Expert:innen und all jene, die sich ganz gleich in welcher Stadt für ein besseres Wohnen und Leben interessieren. Wie dieses bessere Leben aussehen kann, soll an zwei doch sehr konträren Städten exemplarisch illustriert werden. Der Hof des Pavillons wird zu einem Ort, der zum Verweilen einlädt, zum Lernen und Austausch motivieren soll. Im Pavillon selbst werden aktuelle Beispiele und Themen rund um das Wohnen in Wien und in Rom ausgestellt. Von Juni bis Oktober sind zweimal pro Monat Präsentationen, Talks und Workshops zu Themengruppen wie Ökonomie, Migration, Natur, Klima, Tourismus und mehr geplant. „Durch die Integration von Workshops, Vorträgen und interaktiven Formaten wird der Österreichische Pavillon zu einem lebendigen Ort des Wissensaustausches, in dem – über nationale Grenzen hinweg – Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der politischen Verantwortung sowie der nachhaltigen Stadtentwicklung reflektiert werden“, unterstreicht Elias Molitschnig, Kommissär des österreichischen Beitrags der Architekturbiennale.
Wir wollen die Biennale nutzen, um im Sinne einer ‚Intelligens‘ das Wissen der beiden Systeme in Wien und Rom mit möglichst vielen anderen Menschen zu teilen.
Sabine Pollak, Michael Obrist und Lorenzo Romito
Wien und Rom wurden ausgewählt, um an jeweils angewandten konträren Prozessen, der dringlichen Frage nach dem leistbaren Wohnen nachzugehen. Das Top-down-Modell des Sozialen Wohnbaus in Wien wird den Bottom-up-Praktiken der Selbstorganisation der Zivilgesellschaft Roms gegenübergestellt. Dabei wird nachgefragt, was ein staatlich oder städtisch organisiertes System und eine informelle aktivistische Herangehensweise voneinander lernen können. Das Problem der Wohnungen als Spekulationsobjekte, der steigenden Mietpreise, des Leerstands sind in beiden Städten auf gleiche Weise relevant. Anstelle des sozialen Wohnbaus entstehen oft Anlegerwohnungen oder Luxusapartments, und ungenutzter Bestand wird kurzfristig etwa über Airbnb vermietet. Es sind kapitalistische Marktmechanismen, die darüber bestimmen, wie gut oder schlecht in einer Stadt gewohnt und gelebt wird, wenn die Miete mehr als die Hälfte des Einkommens verschlingt und das Leben in der Stadt längst nicht mehr leistbar ist. Diese brisante Situation steht am Beginn des im Österreich-Pavillon eröffneten Diskurses, der dazu auffordert, endlich neue Wege zu beschreiten.
Das Kurator:innenteam wirft in einer Zeit multipler Krisen einen Blick auf unseren Umgang mit anderen Menschen, mit der Stadt, mit ihrem Bestand und der Natur, um zu definieren, wie wir leben, wohnen und arbeiten. Denn, so meinen Pollak, Obrist und Romito, „nur wenn das ökonomische Modell auch passt, kann die Architektur dafür Sorge tragen, dass das Zusammenleben sozialer, gemeinnütziger, kommunikativer, klimatauglicher und vor allem auch empathischer wird“.
Top-down in Wien
„In Wien ist alles anders. Wien wächst seit Jahren rasant, und dennoch ist es hier leistbar geblieben. Seit dem Roten Wien setzt die Stadt Instrumente gegen Bodenspekulation ein und produziert leistbare Wohnungen. In den 1920er-Jahren legte die Stadtverwaltung ein gigantisches Grundstücksreservoir für ein Wohnbauprogramm an, von dem die Stadt bis heute profitiert“, so die Kurator:innen.
In Wien wurde die Wohnfrage seit jeher als gesellschaftlich-emanzipatorische Frage verhandelt. Die zwischen 1919 und 1934 errichteten Wohnanlagen, die internationale Berühmtheit erlangen sollten, hatten zwar knapp zugeschnittene Wohnungen, umspannten aber einen zentralen grünen Hof oder sogar mehrere Höfe und boten eine ganze Reihe gemeinschaftlicher sozialer Einrichtungen wie Vereinsräume, Kindergärten, Waschküchen, Bibliotheken, Sportanlagen, Lebensmittelgeschäfte, medizinische Beratungsstellen, und vieles mehr. Die Finanzierung der neuen Wohnungen erfolgte zu 40 Prozent aus dem Ertrag der im Land Wien neu eingeführten progressiven Wohnbausteuer. Die restlichen Kosten deckten eine Fürsorgeabgabe, eine vierprozentige Lohnsummensteuer, sodass die die Belastung der Miete für einen Arbeiterhaushalt von zuvor 30 auf nunmehr vier Prozent des Einkommens gesenkt werden konnte. Ausserdem wurde der Mietzins im Falle von Krankheit oder Arbeitslosigkeit gestundet. Die großzügigen Wohnhöfe waren einem disziplinierenden Reglement unterworfen, das neben dem Wohnen auch Freizeitgestaltung, Hygiene, Kultur, Kindererziehung und politische Bildung miteinschloss. Und es war die Stadtverwaltung, die bestimmte, wer darin wie und wo wohnen sollte. Auf der Biennale wird die Geschichte des erfolgreichen staatlich bzw. städtisch organisierten Top-down-Modells, anhand hundert Jahre soziale Wohnbauplanung in Wien dargestellt.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mutierte Wien zu einer der am dynamischsten wachsenden europäischen Städte. Geschuldet war dies nicht zuletzt auch der klug angewandten Bodenpolitik, die seit Anfang der 1980er Jahre sehr achtsam mit den Bodenreserven umgegangen ist, um mit Bauvereinigungen und Genossenschaften leistbaren Wohnraum zu errichten, zur Verfügung zu stellen und zu betreiben.
Die Ausstellung ist die Grundlage für eine Diskussion über mögliche Zukünfte eines „Better Livings“, die hoffentlich noch weit über die Dauer der Biennale hinaus andauern wird. Sabine Pollak, Michael Obrist und Lorenzo Romito
Auch heute noch leben etwa 80 Prozent der Wiener Bevölkerung in Mietobjekten. In 220.000 Wohnungen im Besitz der Gemeinde leben etwa 500.000 Menschen in unbefristeten Mietverhältnissen, im geförderten Wohnbau stehen weitere 200.000 Wohnungen zur Verfügung. Durch diesen Top-down-Prozess wird zwar die Leistbarkeit des Wohnens garantiert, die starke Regulierung lässt aber kaum Spielraum für Experimente und verhindert somit die Eigenverantwortung von Bewohner:innen. Die Folge sind nicht nur eine gewisse Apathie sondern auch eine weitgehend monoton gleichförmige Architektur. Die Agency for Better Living sucht nach einer möglichen Erweiterung des Systems vor allem auch im Wissen um die fortschreitende Überalterung unserer Gesellschaft, zunehmender Armut und bereits wahrnehmbarer Auswirkungen der Klimaveränderung – und stellt wichtige Fragen: „Was benötigt Wohnbau in Wien, um zivilgesellschaftliches Engagement zu stärken? Wie geht man in der wachsenden Stadt mit Kulturen, Identitäten und oft fehlender Solidarität um? Was würde Wien zu einer wirklichen Caring City machen, in der nicht nur die Stadt für ihre Bewohner:innen sorgt, sondern wir alle Sorge tragen um die Stadt und um die Menschen, die darin leben?“
Dem Wiener Top-down-Szenario stellt der Österreichische Beitrag das Bottom-up-System Roms, der Hauptstadt des Gastgeberlandes gegenüber. Anhand der Geschichte des informellen Wohnens, unter Wiederverwendung von Bauruinen, verlassenen Gebäuden und ehemaligen Infrastrukturen manifestieren sich dort durch kreative Interventionen und zivilen Widerstand Reaktionen auf die großen Verdrängungsmechanismen der Gegenwart.

Bottom-up in Rom
1870 wird die „ewige Stadt“ Rom Hauptstadt des damaligen Königreichs Italien, und folgt jener Rhetorik, seine einstige Größe wiederaufleben zu lassen oder zu übertreffen. Abrisse und Zwangsräumungen begleiteten den Ausbau Roms zu einer Metropole, deren Struktur soziale Segregation und der Verlust urbaner Dichte begleitete. Die moderne Stadt wuchs ins Umland, steigende Bodenpreise, Bauspekulationen und die Vertreibung der unteren Gesellschaftsschichten förderte in Rom kreativen Widerstand, der sich mit der Wiederaneignung verlassener und zerstörter Stadträume manifestierte, woraus unerwartete Schnittstellen mit Kunst, Politik und Bildung sowie eine unermüdliche Eroberung städtischer Ressourcen entstanden. Diese sozialen Proteste gegen eine Marginalisierung und das Streben nach einem besseren Leben werden schließlich zur Grundlage einer Untersuchung abseits herkömmlicher urbaner Prozesse und Planungen, die zum Beispiel in dem vorgestellten Spin Time Lab in Rom mündete, das aus der Besetzung eines leerstehenden Bürogebäudes hervorging oder aus Umweltkämpfen zur Erhaltung des Sees Lago Bullicante ex Snia als zufällig entstandene Naturoase im Herzen des römischen Stadtteils Prenestino, der zum symbolischen Ort des Widerstands gegen Bauspekulation im Kampf um die Schaffung eines großen archäologischen Naturparks wurde.
Die beständige Fähigkeit Roms zur Selbsterneuerung prägte die Stadtgestalt über Jahrhunderte hinweg, in einer durchaus oft kreativen Wiederverwendung oder Neunutzung der eigenen Ruinen. Relikte vergangener Epochen bildeten daher auch das materielle Fundament ihrer urbanen Struktur. Nun scheint jedoch, der einst zyklisch einsetzende Prozess an seine Grenzen zu stoßen und Ruinen, die Wandel wie Beständigkeit zugleich bedeuteten, werden zum warnenden Zeichen für die Fragilität eines Modells, das auf der permanenten Transformation des Alten beruht und zum architektonischen Stillstand führt.
Der aktuelle Biennalebeitrag der Agency for Better Living lädt mit seiner Gegenüberstellung zweier an sich konträrer Systeme zum Diskurs ein und möchte damit eine längst fällige Veränderung in der baulichen Entwicklung unserer Städte anstoßen. Ein durchaus bemerkenswertes Vorhaben. Für dessen Fortdauer vor allem über die Zeit der Architekturbiennale hinaus und eine wünschenswerte Umsetzung in der Realität braucht es jedoch neue Vorrausetzungen: Nicht nur ein Ende der weit verbreiteten, lähmenden Gleichgültigkeit und des bleiernen Egoismus, sondern vor allem auch den Mut, neue gesellschaftliche und politische Grundsätze zu instituieren und gemeinschaftliche Teilhabe als höchstes Gut zu begreifen.

Die Kurator:innen:
Sabine Pollak unterrichtet als Professorin für raum&designstrategien an der Kunstuniversität Linz und führt mit Roland Köb das Architekturbüro Köb&Pollak Architektur in Wien. Sie erlangte 1996 das Doktorat und habilitierte 2004 im Fach Wohnbau an der TU Wien. Pollak war Gastprofessorin an der University of Michigan, Ann Arbor, sie leitete Gastworkshops an der Bauhaus-Universität Weimar, am Politecnico Mailand, der Universität Salzburg und an der Akademie der Bildenden Künste Wien. Sie arbeitet theoretisch, lehrt Urbanistik, experimentelle Architektur, Geschichte des Wohnbaus und Architekturtheorie, forscht zu den Themen Wohnen und Feminismus, Gemeinschaft und Urbanismus und arbeitet mit ihrem Büro als Expertin für gemeinschaftlichen Wohnbau in Wien. Wohnbauten von Köb&Pollak Architektur wie etwa das Frauenwohnprojekt ro*sa Donaustadt wurden vielfach ausgestellt, publiziert und mit Preisen honoriert.
Michael Obrist, geboren in Bozen, ist Gründungspartner von feld72 Architekten in Wien und Universitätsprofessor an der TU Wien. Seit 2018 ist er Professor für Wohnbau und Entwerfen Inhaber des Lehrstuhls und Leiter der Forschungsabteilung für Wohnbau und Entwerfen an der TU Wien. Dort war er auch maßgeblich am Aufbau des interdisziplinären Centre for New Social Housing beteiligt, das gemeinsam von der TU Wien und der Internationalen Bauausstellung IBA Wien 2022 initiiert wurde. Gastprofessuren: Politecnico Mailand, Kunstuniversität Linz, Meisterklasse Public Art der Salzburger Sommerakademie, Architectural Association Visiting School in Slowenien. Die Arbeiten von feld72 im Bereich von Wohnbau, Bildungsbau, Bürobau und Urbanismus wurden vielfach ausgezeichnet (u. a. mehrere Österreichische Staatspreise, Medaglia d’oro all’architettura italiana, Preis der Stadt Wien für Architektur) und mehrfach bei diversen Biennalen weltweit präsentiert.
Lorenzo Romito ist Künstler, Architekt, Kurator und Mitbegründer von Stalker (1995–). Seit 2022 ist er Professor für raum&designstrategien an der Kunstuniversität Linz. Mit Giulia Fiocca unterrichtet er seit 2020 Public Art an der NABA Rom und seit 2016 das Modul Stalker im Masterprogramm Environmental Humanities der Universität Roma Tre. Er ist Gastprofessor am Francesco De Sanctis Lehrstuhl für italienische Sprache und Kultur an der ETH Zürich. Ausgezeichnet mit dem Prix de Rome in Architektur an der Französischen Akademie, Villa Medici, Rom. Mit Stalker nahm er an verschiedenen Kunst- und Architekturveranstaltungen in Europa und weltweit teil, darunter die Biennale von Venedig, Manifesta, die Europäische Biennale für zeitgenössische Kunst in Ljubljana, die Quadriennale von Rom, die Riwaq-Biennale in Ramallah und die IABR Rotterdam Biennal. Gemeinsam mit Stalker gewann er 2016 den Curry Stone Prize for Social Design.
Österreich-Beitrag zur 19. Internationalen Architekturausstellung – La Biennale di Venezia 2025
Von 10. Mai bis 23. November 2025