Was wäre das Kaffeehaus ohne Thonetsessel? In der klassischen Variante aus schwarzem Bugholz mit einer Sitzfläche aus hellem Rattangeflecht ist er längst unauslöschbar in unserer Erinnerung an einen Kaffeehausbesuch verankert.
Und dass dieser Stuhlklassiker, die Nummer 214 von Thonet, so ikonisch und wiedererkennbar ist, liegt nicht zuletzt auch an diesem reizvollen Kontrast. Zwar ist der Stuhl auch mit Formholz- oder Polstersitz sowie in hellem Holz oder farbig gebeizt verfügbar, die Kombination aus dunklem Holz und naturfarbiger Sitzfläche aber steht wie keine sonst für den allbekannten Kaffeehausstuhl.
Nachhaltig geflochten
Die Buchen, aus denen Thontes Bugholzteile gefertigt sind, stammen ausschließlich aus europäischen, nachhaltig bewirtschafteten Wäldern. Das Material für die Sitzflächen allerdings ist weit gereist. Die Bespannung aus Rohrgeflecht, wird aus der Rattan- oder Rotangpalme gewonnen. Diese tropische Schlingpflanze wächst in den Regenwäldern Südostasiens und bildet lange Triebe, die wie Lianen die Bäume emporklettern. Bereits der Firmengründer Michael Thonet verwendete Rohrgeflecht. Von seinen seit Ende der 1830er-Jahre entstandenen schichtverleimten Bopparder Stühlen sind neben Polsterungen auch Exemplare mit Rattan-Bespannung bekannt. Sei den 1850er-Jahren setzte Thonet bei den industriell in Bugholztechnologie produzierten Stühlen dann vor allem auf Rohrgeflecht, denn das so genannte „Wiener Geflecht“ war günstiger als Alternativen aus Leder oder Polsterung und bei Schäden leichter ersetzbar.
Ein Stück Biodiversität
Damals wie heute wird der Rohstoff für das Rohrgeflecht aus Südostasien, und dabei vor allem aus Indonesien importiert. Es ist nicht sicher, wann Rattan erstmals nach Europa gelangte – man schätzt im späten 16. oder frühen 17. Jahrhundert, als die Europäer begannen, jene Region zu kolonialisieren. Die Technik des Achteckgeflechts, wie sie Thonet bis heute einsetzt, stammt, so ist man sich sicher, ursprünglich aus dem asiatischen Raum. Im England entbrannte jedenfalls ab Mitte des 17. Jahrhunderts eine regelrechte Mode: Rattanstühle waren zeitweise so populär, dass sie gepolsterte Varianten verdrängten. Um 1700 tauchten die ersten Rohrgeflecht-Exemplare in Deutschland auf. Und als Michael Thonet 1819 seine erste Werkstatt in Boppard am Rhein gründete, waren geflochtene Sitzflächen gerade wieder en vogue. Nichts lag also näher, als das für die Biedermeierzeit so typische Element einzusetzen, denn das Geflecht bringt gleich zwei wertvolle Eigenschaften für einen bequeme Sitzfläche mit sich: Stabilität und Elastizität. Das das belastbare Material zugleich ein wenig nachgibt, sorgt es damit für Komfort ohne Kissen. Und ein Aspekt, der aktuell mehr und mehr an Bedeutung gewinnt: Das Rohrgeflecht gilt als nachhaltig, denn die Rattanpalme ist auf Biodiversität angewiesen. Sie gedeiht nur in Symbiose mit benachbarten Bäumen. Die Nutzung von Rattan trägt somit dazu bei, den Regenwald zu erhalten. Auch wachsen Rattanpalmen nach der Ernte rasch wieder nach und binden damit mehr CO2 als Bäume.
Handwerkliche Expertise
Um Fäden für die Geflechte zu gewinnen, wird die Außenhaut der geernteten Rattantriebe geschält und in Streifen geschnitten. Diese Streifen verleimt man zu einem Endlosfaden. Traditionell hatte man bei Thonet jeden einzelnen Stuhl oder Sessel damit in reiner Handarbeit beflochten. Dafür wurden in die Rahmen der Sitze entsprechende Flechtlöcher gebohrt, durch die man die Fäden zog. Heute hingegen bespannt Thonet seine Möbel mit industriell gewebtem Mattengeflecht, das in eine umlaufende Nut im Sitzrahmen eingeschlagen und mit Holzleim fixiert wird. Jedoch besteht dieses vorgefertigte Rollengeflecht nur über vertikale und horizontale Fäden, denn die kreuzenden, diagonal verlaufenden Fäden werden nach wie vor per Hand eingezogen. Um sie für die Verarbeitung entsprechend geschmeidig zu machen, werden die Matten zuvor kurz in Wasser eingeweicht. Da sich das Rattan nach dem Trocknen wieder zusammenzieht, sorgt dies für die gewünschte Spannung. Die Sitzfläche komplettiert Thonet noch mit einem Ring aus dem Kern der Rattanpflanze, dem sogenannten Splint. Er wird auf das Geflecht in die Nut eingeleimt und verschließt diese. Da Splint und Geflecht aus demselben Material bestehen, zeigt sich die Sitzfläche ästhetisch einheitlich. Da im Zuge der Fertigung gleich mehrere Teile der Pflanze Verwendung finden, ist die angewandte Technik auch ressourcenschonend.
Das dekorative, durchbrochene Muster schenkt dem Sitzmöbel seine elegante Transparenz und sorgt wohl auch heute noch für seine große Beliebtheit. Rattan weist, wie jedes natürliche Material, gewisse Unregelmäßigkeiten in Farbe und Textur auf, wirkt dadurch aber lebendig und einzigartig. Sein warmer, leicht changierender Honigton wird gerne im Wohnbereich eingesetzt. Und sollte trotz aller Stabilität das Rohrgeflecht doch einmal reißen, bietet Thonet einen Reparaturservice an ‒ und sorgt dafür, dass sich auch kommende Generationen noch daran erfreuen können.
Unsichtbar unterspannt
Rattan ist ein nachwachsendes und zugleich langlebiges Material, das sich seit Jahrhunderten im Möbelbau bewährt hat. Um auch außergewöhnlichen Belastungen in Restaurants, Cafés oder an anderen belebten Orten standhalten zu können, hat Thonet eine fast unsichtbare Unterspannung aus weißem Polyestergewebe entwickelt. Das kaum sichtbare, patentierte Netzgewebe wird unter das Rohrgeflecht gespannt und trägt zu dessen Verstärkung bei ‒ eine gute Maßnahme auch im Sinne der Nachhaltigkeit, denn die Lebensdauer stark genutzter Geflechte kann somit signifikant verlängert werden. Die zusätzliche Unterspannung ist Standard bei den Rohrgeflechtsitzen der Stahlrohrmodelle S 32 und S 64 und allen Klassikern aus Bugholz.