Die Schweizer Architektin Regula Lüscher hat bis 2021 vierzehn Jahre lang als Berliner Senatsbaudirektorin die bauliche Entwicklung Berlins maßgeblich mitbeeinflusst. In ihrem Festvortrag zum Turn On Architekturfestival 2025 „Wer baut Stadt?“ rief sie einleitend die 2007 geplante Umsetzung eines Entwurfs des Architekten Hans Kollhoff für den Neubau von 10 Hochhäusern am Berliner Alexanderplatz in Erinnerung. Mit vereinten Kräften auch durch Widerstand der Öffentlichkeit und nicht zuletzt durch Lüschers Zutun konnte die Errichtung dieser Hochhäuser schließlich abgewendet werden.
Wer macht Stad und Architektur?
In ihrem Vortrag konzentriert sich Lüscher vor allem auf die Frage, welche Akteur:innen nun letztlich wirklich für das Entstehungsbild der Stadt verantwortlich zeichnen. Auf dem Berliner Alexanderplatz, gelang es, den Großteil des Bestandes zu erhalten, darunter auch das Pressehaus aus 1973. Als ein neuer Besitzer den inzwischen denkmalgeschützten Bau umbauen wollte, erzählt Lüscher, ging der Auftrag an gmp Architekten. Das Sanierungsprojekt wurde vom Expertengremium im Berliner Baukollegium akzeptiert, da es die historische Erscheinung weitgehend nachempfand. Nur mit vereinten Kräften und einem langen Prozess setzte sich der Erhalt und die gute Gestaltung des Pressehauses also durch. Allerdings sieht Lüscher, aus einer Publikation des Architekturbüros gmp zu diesem Projekt zitierend, die wirklichen Akteure, die das Endergebnis beeinflussten, leicht verkannt: „Gemeinsam mit der Tischmanns Bayer“ (der Bauherrschaft) „entwickelten wir eine Strategie, das Gebäude zu sanieren und ihm die ursprüngliche Fassade zurückzugeben“. Regula Lüscher ist mit dieser Formulierung nicht wirklich einverstanden: „Wenn man das liest, könnte man glauben, das Pressehaus wurde alleine wegen der Architekten und der Bauherrschaft erhalten und sorgfältig saniert. Die sind nicht unbedeutend, aber in der gerade erzählten Geschichte tauchen unzählige weitere Akteure auf“. Es stellt sich daher die Frage Wer macht nun Stadt? Wer macht Architektur? Architekt:innen, Bürger:innen, Politiker:innen, die Verwaltung, die Investor:innen, die Medien? „Ich würde sagen, wir alle“, betont sie.
Denn „auch das Architekturmachen ist geprägt von geteilter Autorenschaft. Sind es in der Architektur große Teams aus vielen Fachrichtungen, so ist die Autorenschaft im Städtebau und der Stadtplanung oftmals noch eine Stufe komplexer. Die Akteurskonstellationen sind schwer erfassbar, in den Prozessphasen wechselnd, das Mittun manchmal informell oder auch wenig legitimiert“, sagt Lüscher.
Wir brauchen Empathie, und das Miteinander mit Blick auf die Welt mehr denn je. Wir alle machen Stadt und Architektur. (Regula Lüscher)
Wer fehlt beim Machen der Stadt?
Regula Lüscher verweist auch auf jene, die im Rahmen eines Bauprozesses nicht in der ersten Reihe agieren, sondern wie sie es formuliert „auf der Ersatzbank sitzen“. Und hier, so meint sie, kehrt sich die ausgangs gestellte Frage um in „Wer fehlt beim Stadt- und Architekturmachen?“
Zwar studierten laut Zahlen aus dem Jahr 2022 in der Schweiz über 55 Prozent Frauen Architektur, allerdings sinke der Anteil der den Beruf auch ausübenden Frauen auf 35 Prozent und bei den Büroinhaber:innen sogar auf nur mehr 15 Prozent. Betrachtet man nun Bürgerbeteiligungsverfahren so seien in der Regel 60 bis 70 Prozent der Teilnehmenden über 65 und männlich, die Mehrheit gut gebildeter Mittelstand. „Die Zahl der Immigrant:innen tendiert gegen null“ – auch wenn eigentlich alle gefragt sein sollten, wenn es um die Qualität von Stadt, Architektur und Landschaft geht. „Alle, auch jene, die nicht in Entscheidungsprozessen involviert sind, gestalten Stadt, nämlich zumindest, indem sie die Stadt nutzen. Generell sind es jedoch immer noch sehr viele, die aus der Stadtentwicklung und der Architektur mitreden. Das macht die Sache, gelinde gesagt, herausfordernd“.
Wer steuert das Chaos?
Die Kernkompetenz des Entwerfens müsse beherrscht werden, so Lüscher.Denn es stellt sich die Frage: „Wer steuert eigentlich dieses ganze Chaos?
Wer kann das eigentlich?“ Seit Kurzem bietet die ETH Zürich den Advanced Master für Raumentwicklung und Prozessdesign an (an dem auch Lüscher mit einer Lehrveranstaltung beteiligt ist), wobei die „Studierenden lernen, gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen zu antizipieren, politische Prozesse zu verstehen, gruppendynamische Prozesse durch Rollenspiele zu üben, Beteiligungsprozesse zu gestalten, Stadtentwicklungs und Bauprozesse zu steuern, ohne dabei Architektur und Städtebau und deren Qualität zu vernachlässigen. Ganz im Gegenteil. Denn, die Kernkompetenz des Entwerfens muss beherrscht werden. Und sie muss auch gelernt werden“.
Baukultur ist, wenn dir das Herz aufgeht.
(Gottfried Böhm)
Dialog hilft
Längst sei der Mythos des einsamen Genies, oft gekoppelt mit patriarchalischem Führungsstil, passé. Seit jeher diene das Entwerfen der Gesellschaft, da helfe der Dialog, um andere Lebensperspektiven einbeziehen zu können. Die jüngere Generation hätte dies erkannt, sozialisiert viel mehr im Miteinander, entwickelt und schärft starke Architekturen im Dialog. Soziale Kompetenzen seien hierbei, ist Lüscher überzeugt, ebenso entscheidend wie jene auf dem Fachgebiet und im Entwerfen.
„Wir brauchen Entwerfer:innen, die aus dem Dialog heraus starke Konzepte und Architekturen entwickeln können. Wir brauchen mehr Diversität in den Büros, Teams und Prozessen. Wir brauchen Prozessgestalter:innen, welche die Fähigkeit haben, einen Prozess von Anfang bis zu Ende zu denken, zu gestalten und zu steuern. Und wir brauchen eine adäquate Ausbildung für Prozessgestalter:innen an den Hochschulen.
Und warum brauchen wir das alles? Weil eben Bau- und Stadtentwicklungsprozesse sehr lange dauern“, unterstreicht Regula Lüscher.

Passgenaue Beteiligung
Ein Dialogprozess solle auch während des Architekturwettbewerbs, des Abstimmungskampfs, der Planung des Bauprozesses ebenso wie danach im Betrieb weitergeführt werden. Andernfalls sei das Scheitern von Beteiligungen in der Regel vorprogrammiert. Ganz entscheidend sei hierbei die Phase null, noch vor Erstellung eines Entwurfs, vor dem Planen und Umbauen. Denn dort würden die strategischen Ziele, Inhalte, Chancen und Risiken definiert. Die Vorgeschichte, der Zeitgeist, der gesellschaftliche oder politische Kontext spielten eine wichtige Rolle. „Keine Angst vor Bürgerbeteiligung. Wer das Instrument der Beteiligung passgenau zur Aufgabe und zu den Rahmenbedingungen konzipiert, wird gewinnen“, ist Lüscher überzeugt.
Und wer macht sie nun, die Stadt?
Wie alle machen also Stadt und Architektur, wie Lüscher gleich eingangs vermerkt: „Daher ist Akzeptanz und gegenseitige Wertschätzung dessen, was andere Akteur:innen beitragen können, entscheidend. Die Welt ist kompliziert, die Herausforderung in unserem Metier groß. Es braucht das Wissen und Können vieler. Entwurfs-Kompetenz und die Konkurrenz der Ideen sind nach wie vor Schlüssel für gute Stadt und Architekturqualität, aber die Prozesse müssen vielfältiger und dialogfähiger ausgestaltet werden“. Warum sich Regula Lüscher als ausgebildete Architektin, „die sich genauso an einem liebevoll gestalteten Detail als auch an einer innovativ programmierten Nutzung erfreuen kann“, wie sie selbst sagt, so kraftvoll für Prozesskultur und Prozessqualität einsetzt, ebenso wie für bessere Arbeitsbedingungen im Architekt:innen-Beruf und für mehr Diversität? „Weil Menschen unterschiedlich entwerfen, da sie unterschiedlich leben und daher unterschiedliche Lebenserfahrungen in den Entwurf einbringen. Das ist gut, wenn wir wollen, dass Stadt und Architektur für alle Menschen gemacht wird“, zeigt sie sich überzeugt.
Wir brauchen Empathie, und das Miteinander mit Blick auf die Welt mehr denn je. Wir alle machen Stadt und Architektur. (Regula Lüscher)
Umdenken gefragt
Was es dazu allerdings noch braucht, bring Regula Lüscher dann abschließend auf den Punkt: „Es braucht an vielen Stellen ein Umdenken, einen Wandel im Berufsbild und in der Führungskultur. Wir brauchen weniger Einzelkämpfer:innen und weniger Geniekult, weniger gefakte Beteiligung, sondern mehr Dialog und Diversität, mehr Transdisziplinarität und gegenseitige Wertschätzung, mehr Prozesskompetenz und reflektierte Beteiligungskultur“.
Mit einem Zitat von Gottfried Böhm, dem Architekten und Kirchenbauer, bringt Lüscher nicht nur einen ethischen Aspekt mit ins Spiel, der in der meist nur mehr kostengetriebenen Realität mehr Aufmerksamkeit verdienen würde, sondern auch Böhms ganz persönliche Begeisterung und tiefe Überzeugung, dass Architektur nicht nur ästhetische sondern auch soziale und politische Aufgaben zu erfüllen hat: „Baukultur ist, wenn dir das Herz aufgeht“.
Lüscher ist überzeugt, dass wir Überraschung und Gestaltungskraft brauchen und genau dies sich einstellen würde, „wenn der Reichtum des Lebens Städte und die Architektur vielschichtig macht“.
Daher würde sie ich nicht müde, zu betonen: „Baukultur ist auch Prozesskultur.Und die brauchen wir, um den Paradigmenwechsel im Städtebau und der Architektur hinzubekommen und um die Chance in der Krise zu packen. Wechseln Sie ruhig mal die Rolle, übernehmen Sie Verantwortung, wo immer möglich. Seien, oder bleiben sie politisch“ lautet ihr Credo. „Wir brauchen Empathie, und das Miteinander mit Blick auf die Welt mehr denn je. Wir alle machen Stadt und Architektur“.
Das TurnOn Architekturfestival 2025 läuft von 13. bis 15. März 2025. Das detaillierte Programm findet sich unter www.turnon.at inklusive der Möglichkeit des Livestreams. Alle Vorträge des TurnOn Architekturfestivals 2025 sind außerdem nachfolgend im Internet abrufbar.