Einen Beitrag zur Abhilfe bei der steigenden Überhitzung unsere Städte möchte dieses lebendige Beschattungssystem leisten. Erdacht haben es die beiden Produktdesignerinnen Nicola Stattmann und Carlotta Ludig. Entwickelt wurde das System unter Mitwirkung von Partnern mit entsprechender Expertise. Erste Prototypen wurden in Frankfurt am Main aufgestellt.
Die Sommer in unseren Städten werden immer heißer. Der Griff zur Klimaanlage scheint vielen die naheliegendste Lösung zur Kühlung ihres überhitzten Heims. Dass hierdurch zwar die Innenräume kühler, der Außenraum, in den die Wärme hinausgeblasen wird, sich hingegen weiter erwärmt, wird dabei selten bedacht. Effiziente und nachhaltige Abhilfe ist gefragt, vermehrte Begrünung kann hierbei einen wichtigen Beitrag zur Regulierung des Stadtklimas leisten.
Die Idee
Vor etwa zweieinhalb Jahren starteten die beiden Produktdesignerinnen Nicola Stattmann und Carlotta Ludig mit der Gründung ihres in Frankfurt ansässigen Office for Mircro Climate Cultivation mit der Umsetzung eines ambitionierten Projekts. „Die Idee ist simpel und einleuchtend, die Entwicklung bis hin zum serienreifen Produkt war dann doch etwas komplexer als die Einführung eines neuen Stuhls“, ergänzt Nicola Stattmann, die bereits seit 20 Jahren im Bereich Ecodesign zu Hause ist und zudem ein Label für nachhaltige Massivholzmöbel leitet.
„Hitzeinseln, Klimaresilienz, Schatten, Stadtgrün oder Mikroklima sind Themen, die uns im Sommer täglich beschäftigen. Es war uns klar, dass Plätze schattiger und kühler werden müssen. Wir starteten Recherche und Analyse. Nach und nach fügte sich alles und wir hatten eine konsequente und ziemlich radikale Lösung auf dem Tisch“, erinnert sich Carlotta Ludig. Ludig und Stattmann entwickelten das neue vertikale Begrünungssystem VERD°, das mit seinen unkompliziert zu installierenden Modulen mit großflächigen Pflanzensegeln Schatten spenden und Abkühlung bringen kann. Auch als Fassadenbegrünung soll das System das Mikroklima verbessern helfen.
Die beiden holten Partner und Partnerinnen mit viel Expertise an Board. Etwa Malte Just von Just Architekten, der sich um die Schnittstellen zu Städtebau und Architektur kümmerte und den Bau der ersten Forschungsanlagen maßgeblich unterstützt hat. Für die ausgefeilte Statik der Konstruktion gewann man das renommierte Ingenieurbüro Bollinger+Grohmann aus Frankfurt. Die Produktion wird durch die Wurst Stahlbau GmbH, einer der führenden Stahlbauer Deutschlands, unterstützt. Dieter Gaißmayer, leidenschaftlicher Pflanzenkenner und Gründer der gleichnamigen Bioland-Gärtnerei sowie der Stiftung Gartenkultur in Illertissen, übernimmt die Wahl der passenden Rankpflanzen und kultiviert die verwendeten Setzlinge und Samen. Bei der Entwicklung der mechanischen Details der Anlagen war die Expertise von Designer Stefan Diez und seinem Team von Diez Office aus München von großer Hilfe. Erste Prototypen errichtete man in Frankfurt hinter dem Senckenberg Museum, der offizielle Markteintritt ist für Herbst 2023 geplant.
Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt von der Sektion Entomologie III der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung (SGN) ebenso wie vom Deutschen Wetterdienst: Zunächst wird die Senckenberg Gesellschaft an der errichteten Anlage drei Jahre lang die vorhandenen Insekten erfassen und den Einfluss des Begrünungssystems auf die Biodiversität in Städten erforschen. Der Deutsche Wetterdienst (DWD) hat an den Anlagen Messstationen installiert, die Temperatur, Feuchtigkeit und Windstärke in unterschiedlichen Höhen messen und so das Mikroklima rund um die Anlagen herum untersuchen.
Die Funktion
An einer textilen Netzstruktur, die in eine sturmsichere modulare Leichtbaukonstruktion eingespannt wird, ranken schnell wachsende einjährige Kletterpflanzen empor und sorgen im Sommer für die nötige Beschattung. Im Herbst werden die Pflanzen gemeinsam mit den Netzen demontiert und etwa als Biomasse in Energie umgewandelt. Die Besonderheit: das System greift nur minimal in die bestehende Infrastruktur ein und kann flexibel platziert werden.
Das Begrünungssystem ist konsequent ökologisch und bietet eine praktikable, kostengünstige Möglichkeit, städtische Räume effektiv und zeitnah zu begrünen, vor allem auch Standorte, an denen etwa hohe Bodenverdichtung das Pflanzen von Bäumen nicht erlaubt. Die vertikale Struktur sorgt für wohltuenden Schatten und schafft es dabei auch, die Umgebungstemperatur zu senken. Außerdem gelingt es, Feinstaub und Lärm zu reduzieren und schließlich auch, CO2 zu speichern. Die eingesetzten schnellwachsenden Pflanzen werden auch zur Nahrungsquelle für Insekten und Vögel und unterstützen so die Biodiversität. Auch kann das modulare System flexibel an unterschiedliche Einsatzorte und Nutzungsszenarien angepasst werden. An öffentlichen Plätzen oder Verkehrswegen ist es möglich durch die Platzierung der einzelnen Module, neue Freiräume auszubilden und damit die Aufenthaltsqualität im Freien zu steigern.
Die Konstruktion
Das Klettergerüst besteht aus unterschiedlichen, bis zu zehn Meter hohen Leichtbau-Tragwerken aus Holz und Stahl, die mit eigens entwickelten textilen Ranknetzen aus Flachsgarn bespannt sind. Die freistehende Variante hat einen Betonsockel, der auch als Sitzmöbel gut Dienste leistet. Das Modul mit kreisförmigem Sockel wird als erstes in diesem Jahr in Serienproduktion gehen. Man setzt auf kurze Lieferketten und hat das gesamte System daher modular konzipiert, um es unkompliziert aufbauen zu können. Über Erdschrauben sollen die Strukturen etwa vor Gebäuden im Boden verankert werden. Zur Begrünung und Beschattung von Fassaden wird derzeit eine zweite Variante entwickelt. Beide Lösungen sind standortunabhängig, greifen nur minimal in den Boden ein, und sind bis auf den notwendigen Wasseranschluss autark und pflegeleicht. Stefan Diez hat die zugehörigen Pflanzgefäße entworfen, die in unterschiedlichen Höhen platziert werden können. Für den Einsatz im Stadtraum werden Schalen aus 3D-gedrucktem, recycelten Kunststoff, auf drei Meter Höhe platziert; Je nach Einsatzort des Systems können diese auf unterschiedlichen Niveaus befestigt werden.
Die Pflanzen
Im Frühjahr werden die Tröge mit torffreiem Substrat sowie ausgewählten Samen und Setzlingen schnellwachsender Kletterpflanzen in Bioland-Qualität bepflanzt. OMC°C kümmert sich aber nicht nur um die Bepflanzung sondern ebenso um die Bespannung mit den biologisch abbaubaren Ranknetzen aus Flachs. Zur Wahl stehen unterschiedliche Pflanzenarten, die etwa buschiges Grün ausbilden oder besonders farbenprächtig blühen – allen gemein ist, dass sie besonders schnell wachsen. In einem Sommer kann man die Netze bis auf eine Höhe von sieben Metern flächig begrünen.
Je nach Standort und Nutzungsszenario ist es möglich, diverse Arten zu kombinieren, um über die Beschattung hinaus auch ästhetische Effekte zu erzielen, aber auch die Anfälligkeit für Krankheiten zu reduzieren. Die Auswahl der optimalen Pflanzenkombination ist Teil des Planungsprozesses. Die überwiegend einjährigen Pflanzen benötigen vergleichsweise wenig Wurzelraum, womit Verholzung wie bei mehrjährigen Pflanzen vermieden wird. Und durch den Abbau im Herbst entfällt der Aufwand für Rückschnitt oder Laubbeseitigung, denn die schattenspendende Biomasse kehrt am Ende des Sommers als neuer Rohstoff in den Kreislauf zurück. Bewässert wird während der Wachstumsphase über ein automatisiertes System, das etwa an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen werden kann.