Es ist überflüssig, in Erinnerung zu rufen, wie sehr die Architekten der Postmoderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jene Kreise der Gläubigen einer Theorie der Moderne aus der Fassung brachten. Die Geschichte ist bekannt, und der weltberühmte Architekt Paolo Portoghesi (Rom, 1931 – Calcata, 2023), gilt als Hauptvertreter eben dieser Postmoderne. Er wurde zur Zielscheibe der Kritik, weil er mit der gekrümmten Linie als Idiom seiner konstruktiven Sprache „das Fenster zur Geschichte“ wieder aufgestoßen hatte. 1931 in Rom geboren konnte er auf eine lange akademische Laufbahn zurückblicken, als Autor und Forscher des Barock hatte seine Vorliebe Francesco Borromini, seinem intellektuellen, professionellen und wohl auch ethischen Bezugspunkt gegolten. Vor einiger Zeit haben wir Paolo Portoghesi auf seinem Anwesen in Calcata, einer nördlich von Rom gelegenen Ortschaft mit antiken Wurzeln, zu einem Interview getroffen. Genau an jenem Ort, an dem er Ende Mai dieses Jahres verstorben ist.
Franco Veremondi im Gespräch mit Paolo Portoghesi
Vergangenes Jahr wurde das sechzigjährige Bestehen der Errichtung der Casa Baldi gefeiert, einer inmitten üppiger Vegetation für eine Familie errichteten Villa nahe Roms. Es war Ihr Erstlingswerk und ist dennoch in die Geschichte eingegangen. Wollen wir uns an Ihre damit verbundenen Anfänge erinnern?
Paolo Portoghesi: Nach einigen gemeinsam mit Kollegen ausgeführten Arbeiten war die Casa Baldi mein erstes absolut eigenständiges Projekt, das zwischen 1959 und 1961 entstand. Und trotz der seither vergangenen Jahrzehnte ist es für mich gemeinsam mit der Großen Moschee in Rom noch immer mein ausgesprochenes Lieblingsprojekt.
2020 wurde auch der Abschluss umfassender Restaurierungsarbeiten gefeiert und eine funktionelle Renovierung; natürlich waren Sie damit betraut worden, insofern als Sie mit den materiellen wie mit den konzeptuellen Zusammenhängen vertraut sind. Damals ein doch sehr mutiges Projekt für einen achtundzwanzigjährigen Architekten, oder?
Ich hatte die Casa Baldi außen mit konkav gekrümmten Mauern konzipiert, mit einer akzentuierten Auskragung des Abschlussgesimses, wodurch sich das Werk über die strengen stilistischen Regeln der Zeit hinwegsetzte. Es war ein Entwurf, der sich polemisch mit dem Rationalismus auseinandersetzte, der im Laufe einiger Jahre zu sterben begann, obwohl die Architektur Unvergänglichkeit einfordert. Ich war überzeugt davon, dass man sich von den Mythen des Rationalismus befreien müsse, und in einem gewissen Sinn hat mir die Geschichte recht gegeben. Es war ein Akt der Rebellion auch gegen all jenes, was ich an der Universität gelernt hatte und zwar, dem internationalen Stil treu zu bleiben. Also konsequent einem anständigen Konformismus zu folgen, ohne andere Ambitionen. Bei der Casa Baldi jedoch hatte mir der Auftraggeber freie Hand gelassen, ohne jegliche Vorgaben.
Ein idealer Auftraggeber also …
Nun, ideal bis zu einem gewissen Punkt, denn ich finde es ist schön, mit einem Projekt auch ein Porträt des Auftraggebers zu zeichnen, damals hingegen verlangte er zu realisieren, was ich wollte, daher fehlte mir seine persönliche Vorstellung. Dennoch überrascht mich das Resultat noch immer.
Einige Jahre später entwarfen Sie die Casa Papanice, eine kleine mehrgeschoßige Villa nahe des römischen Stadtzentrums, die trotz einiger dem Material eigenen Charakteristika die Idee einer Architektur mit gekrümmten, lebendigen Formen erneut bestätigte, und die Farbe einführte.
Da hatte ich mir die Aufgabe gestellt, ein Haus zu schaffen, das Kindern gefällt, jenen, die in der Stadt leben und aus ihr fort möchten. Damals glaubte ich fest an das Bildungsmoment in der Kindheit. Es ist ein als Absage an die Stadt gedachter Bau, der von dichten Baumreihen umgeben von außen her fast unsichtbar wird. Die Außenhülle, bestehend aus eng aneinander gereihten Rohren, war auf gewisse Weise eine Bezugnahme auf den Architekten des Barock Borromini, also eine Form – in seinem Fall das Dreieck – heranzuziehen und systematisch anzuwenden. Ich wählte die geometrische Form des Zylinders, der ja die Basis von allem ist. Die Konstruktion basierte auf einer Idee des Rationalismus, dem Haus Schröder von Gerrit Rietveld, umgewandelt in ein barockes Bauwerk. Im Grunde genommen habe ich mich mein Leben lang mit der „Krümmung“ befasst, ihr gilt meine uneingeschränkte Vorliebe. Der Bauherr, ein Bauunternehmer, hatte mich auch um etwas ganz Kurioses gebeten, nämlich um eine so aufsehenerregende Architektur, dass sie für Filmaufnahmen geeignet sei. Was letztlich gelang, weil hier auch wirklich Filme gedreht wurden, einer davon 1970 mit Marcello Mastroianni, der für seine schauspielerische Leistung die Goldene Palme von Cannes erhielt.
Gibt es einen Grund, weshalb Sie die gekrümmte Linie bevorzugen?
Ich kann Ihnen das unter Bezugnahme auf Albert Einsteins Feldkonzept erklären: Unter Einsatz der geraden Linie entsteht ein neutraler Raum. Eine gekrümmte Linie dagegen komprimiert den Raum auf einer Seite, während sich dieser auf der anderen Seite hingegen ausdehnt. Hierdurch entsteht die Möglichkeit, direkt auf den Raum einzuwirken, vor allem aber die Dichte des Raumes zu verändern.
In der Rekonstruktion der Ereignisse der zeitgenössischen Architektur hatte man etwa behauptet, die Casa Papanice sei weltweit eines der ersten Beispiele der Postmoderne. Sind Sie damit einverstanden?
Ja, insofern als der Amerikaner Charles Jencks, einer der einflussreichsten Architekturhistoriker und Spezialist auf dem Gebiet der Moderne und der Postmoderne, die Casa Baldi in seine Erstausgabe von „Language of Postmodern Architecture“ aufnahm. Die Casa Papanice hat er hingegen der Periode des „Late Modern“, also der späten Moderne zugeordnet.
Gefällt es Ihnen, als postmoderner Architekt, wenn nicht sogar als Gründer dieser Bewegung bezeichnet worden zu sein?
Selbstverständlich. Ich habe dieser Bewegung angehört oder bin wohl sogar deren Vorläufer. Aber ich bin von den Resultaten enttäuscht, denn sie nahm später einen ironischen, sogar exzessiv selbstironischen Verlauf mit ans Lächerliche grenzendem schlechten Geschmack.
Ich sehe nicht vornehmlich Architektur als Kunst, sondern vielmehr als Fürsorge.
Paolo Portoghesi
Ihre kritische Äußerung verlangt nach einer weiteren Frage über die Vorzüge und Mängel: Welches sind das Pro und die Kontras?
Unter den positiven Aspekten ist die Anpassung an eine neu entstandene Feinfühligkeit zu sehen, es war also wie eine Befreiung aus einer Reihe von Abhängigkeiten. Der negative Aspekt liegt im Zynismus etwas x-Beliebiges zu tun. Ich ging von der Idee aus, die Architektur müsse den Sinn des Ortes zurückerobern, also vom Ort ausgehen. Die Casa Baldi etwa wurde genau so errichtet, denn der Tiber macht eben dort eine Biegung, der Tuffstein der Mauern ist jenes Material, aus dem der Hügel besteht, auf dem sie errichtet sind, und weil es in der Nähe ein römisches Monument gibt, auf das ich mich beziehe. Kurz, die Verbindung mit dem Ort ist meine Philosophie, in die auch die Idee der gekrümmten Linie einfließt, geometrisch konstruiert, als großartiges Instrument zur Modellierung des Raumes. Historisch gesehen wollte die Postmoderne ein Fenster zur Vergangenheit öffnen, nun weiß man nicht einmal mehr, was es bedeutet, das gefällt mir nicht. Der einzige Grund hierfür ist die Anpassung an die Formen des Konsumismus. Leben und Konsum sind definitiv ein Produkt des Kapitalismus.
Eine wichtige Persönlichkeit, die sich mit der Postmoderne identifizierte, war der österreichische Architekt Hans Hollein, den Sie sicher persönlich kannten. 1985, als er den Pritzker Preis erhielt, bestätigte er, die Architektur vornehmlich als Kunst zu betrachten, also als kreative Erfahrung und nicht in erster Linie als Lösung eines Problems. Aus dieser Äußerung ergeben sich zwei unterschiedliche und gegensätzliche Richtungen: eine autonome, die eben genau die Kreativität voranstellt, und eine heteronome, in der Sie sich wiederfinden, eine Richtung, die in der Architektur das Zusammentreffen unterschiedlicher Elemente sieht, wie Geschichte, Anthropologie oder die Morphologie des Ortes. Ist diese Beurteilung korrekt?
Tatsächlich ja, aber ich wusste nichts von seinen Aussagen, auch wenn seine Haltung aus seinen Werken ableitbar ist. Ich kannte Hollein sehr gut, er hat mich auch einige Male hier in Calcata besucht. 1980 habe ich ihn eingeladen, bei der ersten Architekturbiennale in Venedig auszustellen; Ich war damals deren Direktor und als solcher hatte ich ihr den Titel „Die Präsenz der Vergangenheit“ gegeben. Unter den eingeladenen Architekten war er mir wohl am nächsten. Aber wir vertraten unterschiedliche Standpunkte, Hollein hatte radikale künstlerische Aktivitäten hinter sich, und vor allem als Architekt hat er dieses Bewusstsein der Autonomie der Konstruktion beibehalten. Meine Richtlinie war eine andere. Die Architektur ist zwar ein Bereich, der auch die Kunst einschließt, aber sie ist nicht nur Kunst. Als Sprachform ist sie auch anderes, und nicht immer gehört sie in die Kategorie des Erhabenen, wie bei Michelangelo und anderen Großen.
Wie sehen Sie die Beziehung Natur – Architektur?
Diesem Thema habe ich ein Buch genau mit dem Titel „Architektur und Natur“ gewidmet, das auch auf Englisch übersetzt wurde und in den USA ziemlich erfolgreich war. Ich vertrete wie Einstein die Meinung, dass alles, was der Mensch erfunden hat, bereits in der Natur existiert. Das Studium der Natur fördert kreative Ideen zutage, auf denen die Architektur basiert. Nun, ich sehe, dass die Architektur von der Natur lernen kann. Zum Beispiel ist die Natur sehr sparsam, ihre Formen entspringen absoluter Genauigkeit, alles Dinge, die sich auf mysteriöse Weise im Leben wiederfinden. Meinen Studenten sage ich sehr bestimmt, dass man vermeiden muss, Formen direkt der Natur zu entnehmen, erst wenn man die Prozesse verstanden hat, wird die Natur zur Lehrerin, sonst ist es nur eine grobe formale Imitation.
Was denken Sie über die Street-Art, angesichts dessen, dass dieses künstlerische Phänomen immer öfter auf den Mauern der Stadt zu finden ist?
Die Street-Art kann man als Wiederentdeckung der figurativen Darstellung sehen und als Bedürfnis der Kunst, sich allen verständlich zu machen, gegen eine Elite von Experten und deren für die meisten Menschen unverständliche Kreativität.
Welchen Stellenwert hat Licht in einem Bau? Licht ist etwa im Werk Borrominis, dessen profunder Kenner Sie sind, von großer Bedeutung.
Licht ist das immateriellste aller Materialien, über die ein Architekt verfügt, und einer der determinierenden Aspekte der architektonischen Sprache. Borromini – weil Sie ihn erneut zur Sprache bringen – modellierte das natürliche Licht, wie ein Maler die Farbe einsetzt, also um das Unsichtbare sichtbar zu machen, um den Sinn des Göttlichen zu kommunizieren. In manchen Kirchen, mit deren Errichtung ich beauftragt wurde, habe ich das oft zutage getretene Problem durch etwas ersetzt, das ich „doppelte Hülle“ zwischen innen und außen genannt habe, eine Mauer, die auf Boden wie Decke aufruht. Ich habe eine Einteilung in Erde und Himmel entwickelt und somit inmitten dessen einen Zwischenraum aus Licht, der von unten hinauf strahlt, festgelegt. Das war eine Möglichkeit, die Anregungen Borrominis mithilfe von Technologien, über die er nicht verfügte, voranzutreiben.
Wie haben Sie in der Großen Moschee in Rom, die als Ihr Meisterwerk gilt, Licht eingesetzt?
In der Moschee ist die Lösung ähnlich, aber sie hängt nicht von der doppelten Hülle ab. Der Zwischenraum zwischen unten und oben erfolgt durch einen Spalt, über den kontinuierlich Licht eintritt, was dadurch möglich wird, dass der obere Bereich von Säulen getragen wird. Um das Licht abzuschirmen, habe ich ein ebenfalls durchlaufendes Paneel platziert, auf dem Verse aus dem Koran wiedergegeben sind. Ich wollte damit kommunizieren, dass aus den Worten des Propheten das Licht entspringt.
Sie haben einen Universitätslehrgang mit der Bezeichnung „Geoarchitektur“ gegründet, den Sie an der Universität La Sapienza in Rom auch leiten. Können Sie die wichtigsten Aspekte zusammenfassen?
Der Begriff der Geoarchitektur stammt nicht von mir, sondern von Le Corbusier. Als ich begonnen habe, mich dafür zu interessieren, war ich nicht auf dem Laufenden, die Inhalte sind aber unterschiedlich. Ich bin von der Übersetzung der Geophilosophie ausgegangen, eine Tendenz, die mit wichtigen Vertretern in Frankreich entstanden ist. Von da ausgehend habe ich gedacht, die Argumentation sollte sich, im globalen Sinn, auf die Umwelt beziehen, über eine bewusste Nutzung der Architektur, um die Umweltkatastrophe, die der Mensch verschuldet, wiedergutzumachen. Zum Beispiel befasse ich mich mit dem Thema unserer geologischen Ära, dem Anthropozän, darauf wird mit der Veränderung des Planeten eine für den Menschen nicht mehr bewohnbare Umgebung folgen. Daher glaube ich nicht an die Architektur vornehmlich als Kunstform, sondern vielmehr als Fürsorge: Fürsorge für die Stadt und das Territorium. Wenn man mich fragt, was Architektur sei, so antworte ich seit mittlerweile vierzig Jahren, dass sie eine Erscheinungsform der menschlichen Arbeit ist.
Paolo Portoghesi
1931 in Rom geboren, promovierte 1957 in Architektur an der Universität La Sapienza, Rom; diverse Professuren am Polytechnikum Mailand, an der Architekturfakultät Valle Giulia in Rom, wo Portoghesi heute den Lehrgang Geoarchitektur leitet.
Zahlreiche Bauten in Italien und im Ausland u. a.:
Casa Baldi in Rom (1959–61); Kirche Sacra Famiglia, Salerno (1974); Große Moschee und Islamisches Kultur zentrum Rom (2000); Theater Politeama Catanzaro (2002); Neue Kirche in Calcata (2009)
Autor zahlreicher Bücher u. a.: Borromini, Architettura come linguaggio, 1967 (übersetzt auf Englisch, Fran zösisch, Deutsch); La seggiola di Vienna, 1975 (mit G. Massobrio); Dopo l’architettura moderna, 1980 (über setzt auf Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch, Portu giesisch); Geoarchitettura, 2005; Zahlreiche Publikationen sind ihm gewidmet.
Direktor der Architekturzeitschriften Controspazio, Eupalino, Materia, Abitare la Terra
www.archimagazine.com/Bporto.htm
Erschienen in Architektur & Bau Forum 12/20