Wilfried Wang ist nicht nur planender Architekt, Kurator und Lehrender. Seine Entwürfe sind selbstverständlich, sollen mühelos erscheinen und physikalisch wie ästhetisch nachhaltig sein. Gegen Massenproduktion und deren ästhetische Verflachung steht jedes Projekt im Zeichen sinnlicher Identität und kultureller Kontinuität durch handwerkliche Verarbeitungsweisen. All seine Tätigkeiten eint ein unermüdlicher Einsatz für Erhalt und Nachnutzung von Bausubstanz sowie die Überzeugung, aller Bestandsarchitektur stets neues Leben einzuhauchen. Anlässlich seiner Teilnahme am Wiener Architekturkongress „Am Ende Architektur“ haben wir Wilfried Wang zum Gespräch getroffen.
Christine Müller im Gespräch mit Wilfried Wang
Angesichts Ihrer kritischen Haltung zur Investorenarchitektur, wie sehen Sie das Projekt Hotel Intercontinental/Eislaufverein Wien?
Es geht um die Frage inwieweit im Nahbereich des Weltkulturerbes der Innenstadt Wiens in „Salamitaktik“ eine Bebauung mit Hochhäusern überhaupt zulässig ist, ohne diesen Status zu gefährden. Wien ist mittlerweile auf der Roten Liste der gefährdeten Weltkulturerbestätten. Nun muss man überlegen, welche Entwicklung man im Ringstraßenbereich zukünftig zulassen will.
Viele meinen, kein Weltkulturerbe zu brauchen.
Dresden etwa wurde ein schlechtes Zeugnis ausgestellt, Deutschland muss in Zukunft mit verschärfter Prüfung rechnen. Das wird nun auch für Österreich gelten. Wenn man dann noch flapsig meint, „das brauchen wir eh nicht, wir wollen wachsen und der Wirtschaft keine Knüppel in den Weg legen“, dann ist das verfehlte Stadtentwicklungspolitik, Stadtentwicklung muss langfristig in der Öffentlichkeit besprochen werden.
Nicht zuletzt auch angesichts des prognostizierten Wachstums der Städte.
Städte werden bis 2050 um 30 Prozent wachsen, auch durch Migration. Die Weltbevölkerung wächst, Städte werden immer attraktiver. Jede Stadt muss sich also fragen, wie sie diesen Bevölkerungszuwachs baulich – stadtentwicklungspolitisch – bewerkstelligen will. Anstatt die so genannten Filetgrundstücke und die zentralen Bereiche Wiens zu opfern, etwa auch in Ringstraßennähe, sollte man eine historisch gewachsene Substanz als Alleinstellungsmerkmal sehen und nicht leichtfertig aufgeben. Das sind unwiederbringliche Elemente einer Kultur in Bezug auf Denkmalschutz, Nachhaltigkeit und Nachverdichtung, auch um eine Zersiedlung des Umlandes zu verhindern.
Die Stadtpolitik gibt so ihre Verantwortung an Investoren ab.
Die Stadt hat den Souverän zu vertreten, den Wähler, in der Aufrechterhaltung gewisser Grundprinzipien, Eigenschaften und Qualitäten. Je eindeutiger man aus Sicht der Souveränität im Sinne der Unabhängigkeit einer Stadtpolitik und einer Stadtverwaltung gegenüber einem Investor Position bezieht, desto ernster wird man genommen.
Sie waren für zehn Jahre Vorsitzender des Sachverständigenbeirats der Hansestadt Wismar, die auch Weltkulturerbestatus hat.
Wismar hat Weltkulturerbestatus. Als Gestaltungsbeirat haben wir zahlreiche Projekte über arbeiten lassen, bis sie jene Qualität hatten, die der Stadt gebührt. Wir haben der Stadt empfohlen, keine Einkaufszentren, keine großen Super märkte im Umfeld der Stadt oder in der Innenstadt zu errichten. Jetzt hat Wismar ein Alleinstellungsmerkmal entlang der Küste und einen relativ vernünftigen Besatz an Einzelhändlern. Natürlich entspricht das nicht den automobilen Vorstellungen des späten 20. Jahrhunderts, aber Autos wer den zukünftig nicht mehr die Rolle spielen wie früher. Durch das Internet spielen Einkaufszentren als kommerzieller Typus keine Rolle mehr. In den USA gibt es die Website „Dead malls.com“ – die sich mit der Nachnutzung von Malls befasst; sie werden mittlerweile umgebaut.
Auch in Österreich ist Leerstand ein großes Thema. Einkaufszentren und Supermärkte lösen im ländlichen Bereich noch den funktionierenden Einzelhandel im Ortsverband ab.
Nun, es gibt ein düsteres und ein helles Bild. Das helle Bild ist, dass im Zuge der Besinnung auf Nachhaltigkeit auch die lokale Nahrungsmittelproduktion wieder eine Renaissance erleben wird. Erst stachen die Einkaufszentren den Einzelhandel aus, jetzt stechen sie einander aus. Wir müssen nicht viel tun, nur bewilligen muss man dies in Zukunft nicht mehr. Aus dieser selbstzerstörerischen Logik wird eine andere Haltung entstehen, allerdings wird es wohl noch Jahrzehnte brauchen.
Wie sehen Sie die Problematik von Bestandsschutz und Denkmalpflege?
Wenn die Natur einmal angefasst wird, ist sie unwiederbringlich nicht mehr Natur, sondern Landschaft. Das Gleiche gilt für Bauten, die zerstört werden, die man entkernt. Natur und Baubestand als zweite Natur sind Teile einer Kulturlandschaft, die es für spätere Generationen zu bewahren gilt so gut es geht. Wenn wir den internationalen Investoren problemlos Baugenehmigungen erteilen, verliert die Stadt allmählich ihr Gesicht.
Mein Ansatz heißt, substanzielle und interne Gestaltung als Ziel der Architektur.
Wilfried Wang
Wann ist ein Bau schützenswert?
In der Errichtung von Bauten steckt so viel Primärenergie, dass jedes Gebäude, egal welcher Qualität, grundsätzlich bewahrt werden sollte. Baugenehmigungen sollten nur erteilt werden, wenn Neubauten auch von guter Qualität sind, bauphysiologisch gebaut werden, gestalterisch in das Umfeld passen und eine gewisse Haltung haben. Man sollte also von Neu, An und Umbauten dauerhafte Qualität verlangen.
Das ist auch eine Kostenfrage.
Nein, das ist eine Verantwortungsfrage. Wenn ein Bauherr meint, Bestand abzureißen und neu zu bauen sei günstiger, dann herrscht hier noch immer die alte Denke, die Primärenergie nicht wirklich mit einbezieht. Bei Bauten der 1960er und 1970er Jahre gibt es oft Asbestprobleme. Das ist langwierig und kostspielig – egal, ob saniert oder abgerissen wird. Die meisten Bauten, die einer Funktion gedient haben, sind umbau- und renovierungsfähig, wenn man denn auch intelligente Architekten dransetzt. Und die gründerzeitlichen Bauten in Wien haben die Qualität, flexibel nutzbar, konstruktiv und bauphysiologisch freundlich zu sein, so dass sie auch weitere 200 Jahre nutzbar sind. Daher gilt es, diese Substanz so weit wie möglich zu erhalten.
Bei modernen Bauten kommt auch die Problematik der Instandhaltung und teils hohen Energiekosten zum Tragen.
Bei manchen Bauten aus jüngster Vergangenheit hätte man sich früher fragen sollen, wie es mit der Instandhaltung aussieht, mit der Wartung, mit Kosten für Kühlung und Heizung – brauchen wir das? Manche sagen, die Zukunft ist heute, Technologie kann alles. So einfach ist das nicht. Technologie kann zwar alles, aber sie kostet auch, und sie wird immer teurer. Smart Houses, smart Technology: Wir wissen, dass die Betreiber von Smart Houses alle zwei bis vier Jahre komplett neue Systeme entwickeln. Was bedeutet das? Wir machen uns abhängig von diesen ständigen automatischen Downloads. Warum, ist das notwendig? Wir haben das jahrzehntelang nicht gehabt und hatten dann Heizungsanlagen, die 40 bis 50 Jahre gehalten haben, die auch ersetzt werden müssen durch effizientere, keine Frage. Aber macht uns Technologie tatsächlich unabhängiger?
Gelingt es Ihnen als Architekt, in der Praxis diese Überzeugungen auch so umzusetzen?
Nun, die meisten Projekte, die wir machen, sind Umbauten auch denkmalgeschützter Objekte. Für mich sind das die tollsten Aufgaben überhaupt. Ein großes Betätigungsfeld sind nun mal Wartung und Erhaltung von Bestandsbauten. Der behutsame Umgang damit, die richtige Balance zu treffen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Neuen. Das Neue muss ja nicht immer so direkt ins Auge springen. Uns hat Hermann Czech sehr geprägt, das Erfahren erst durch den zweiten Blick zu ermöglichen. Darin sehen wir vorrangig unsere Tätigkeit, und das macht sehr viel Spaß.
Sie stehen dem BIM – Building Information Modeling kritisch gegenüber. Warum?
Diese Entwicklung ist unaufhaltbar. Gleichzeitig sehe ich sie aber kritisch. Wir sind sozialisiert im Denken, dass die Zukunft immer Besseres für uns bereithält. Die Vorstellung, dass es schlechter wird, ist uns unerträglich. BIM mutiert Architekten zu Organisatoren. Na, toll. Dann frage ich mich, wozu wir diesen Berufsstand noch brauchen, dann können wir diesen Terminus gleich abschaffen oder nur für Sonderbauten einsetzen. Kein Raum, kein Gebäude wird dann mehr eine besondere Eigenschaft haben, eine eigene Qualität, sondern nur etwas technisch Hingebautes sein. Es ist ein durchaus nützliches Instrument, das all jenen einen Schutzraum gibt, die nicht im Sinne eines kulturellen Verständnisses von Baukultur auf dem Weg sind. Dann ist die Bauindustrie aber zu einem technokratischen Monster geworden, das ist die Gefahr, die ich sehe.
Architekten werden in ihrer Leistung mehr und mehr eingeschränkt, vieles wird von den Ausführenden erledigt, hat der Architekt immer weniger zu entscheiden?
Der Berufsstand des Architekten ist einer der wenigen, der Zusammenhänge verstehen und der ein Verständnis entwickeln sollte für die Koordination aller einzelnen Elemente; er ist einer der ersten, der aus dem Prinzip der Arbeitsteilung heraus entstanden ist. Das heißt, wir haben einen Auftraggeber, Ausführende und den Architekten, als Mittler zwischen diesen beiden. Wenn die Bauaufgaben relativ einfach sind, kann das auch ein bauausführender Ingenieur. Wir befinden uns aber in einer Zeit, in der die Bedingungen immer komplexer werden. Wenn Architekten dieses Problemfeld nicht erkennen und die Expertise, die dieser Berufsstand eigentlich haben müsste, nicht in den Vordergrund stellen, dann ist dieser intensiv arbeitsteiligen Gesellschaft und Zivilisation auch nicht mehr zu helfen.
Wann ist die Rekonstruktion eines historischen Bauwerks vertretbar, kann sie das überhaupt sein?
Nehmen wir das Stadtschloss in Berlin: eine Rekonstruktion von drei Fassaden und einem Hof. Der Rest ist Stahlbeton mit zeitgenössischen Lüftungselementen und Leitungen, eine Stahlbetonfassade, die mit Ziegelmauerwerk und Putz verkleidet und mit Sandsteinornamenten bestückt wird. Die Funktion entspricht ja schon lange nicht mehr jener eines Schlosses. Das ist keine in sich integre Gestaltung. Mein Ansatz heißt substanzielle und integre Gestaltung als eigentliches Ziel der Architektur. Wenn man nun aus dem Postmodernismus heraus sagt, dass es egal ist, wenn Fassadenelemente etwas vorgeben, wenn eine Stütze keine tragende Funktion mehr hat, dann fragt man sich, warum macht man das? Darin besteht auch meine grundsätzliche Kritik an der Postmoderne, die es nie geschafft hat, eine eigenständige konstruktive Basis zu entwickeln, was der Moderne sehr wohl anzuerkennen ist. Die Moderne hat uns die moderne Bauindustrie gegeben. Das ist ein Fakt. Wenn es also dank des Postmodernismus schon dieses Schisma gibt zwischen Darstellung und Substanz, als akzeptable Vorgangsweise, dann ist der Schritt nicht mehr weit, so zu tun, als wäre das eine integre substanzielle Fassadenrekonstruktion. Das ist ein kulturpolitischer Verfall – das muss man leider so nennen – ich bin jetzt weiß Gott kein Anhänger von Spenglers Untergang des Abendlandes, aber diese Tendenzen kann man nicht anders beschreiben. Natürlich gibt es Architekten, die in der Lage sind, integer zu bauen, ob Rozana Montiel in Mexiko oder Al Borde aus Quito in Equador oder Rafael Iglesia in Argentinien. Architekten, die zeitgenössische, zeitgemäße mit heutigen konstruktiven Mitteln hochwertig qualitätsvolle Gestaltung verwirklichen können. Das sind unsere Vorbilder, nicht die bequeme Rekonstruktion, weil wir Angst haben vor der Aufgabenstellung.
Wieso gibt es Ihrer Meinung so viele gute Architektur in Lateinamerika?
Das liegt am tollen Klima, dadurch kann man relativ einfach bauen. Wir müssen uns mit Wärmeisolierung und Ähnlichem herumschlagen, das ist schon mal ein großer Verlust, wenn man die Baustruktur, das Essenzielle der Konstruktion nicht wirklich darstellen kann, das betrifft aber die gesamte gemäßigte Klimazone. Architekten haben seit des Rückzugs der USA als übermächtige Polizei endlich auch dieses Freiheitsgefühl verspürt und mit den geringen zur Verfügung stehenden Mitteln und sehr erfinderisch, im ursprünglichen Geiste der Architektur, Dinge entwickelt, die der Gesellschaft genügen und auch ästhetisch ansprechend sind. In Europa, den USA oder in China herrscht hingegen eine zu große Sattheit, bei der nur mehr die Zahl der verwirklichten Bauten zu zählen scheint.
Können Sie das denn als Lehrender Ihren Studenten nahebringen, und fruchtet das auch?
Ja, klar. Ich reise mit meinen Studierenden regelmäßig dorthin. Also die nächsten beiden Jahre nicht, weil wir einen Schwerpunkt auf Berlin gelegt haben, aber Südamerika ist und bleibt eine Quelle der Inspiration.
Wilfried Wang
(geb. in Hamburg)
1975–1981 Architekturstudium an der Bartlett School University College London
U. a.: 1995–2000 Direktor des DAM Deutschen Architektur-Museums in Frankfurt; 1995–2002 Adjunct Profes- sor of Architecture, Graduate School of Design, Harvard University; seit 2002 O’Neil Ford Centennial Professor in Architecture, The University of Texas at Austin, School of Architecture
2001 Gründung mit Barbara Hoidn des Architekturbüros Hoidn Wang Partner in Berlin
Autor und Herausgeber verschiedener Mono- und Topografien zur Architektur des 20. Jahrhunderts, darunter Monografien über Diener & Diener, Herzog & de Meu- ron, Alvaro Siza, Gigon & Guyer, Hermann Czech, Boris Podrecca, Eileen Gray, Knut Knutsen, Josep Lluís Mateo
Seit 2001 Mitglied im Sachverständigenbeirat der Hansestadt Wismar; seit 2005 Kurator des Architek-turmuseums, Stiftung Insel Hombroich; seit 2006 Vor- sitzender des Vorstands der Erich Schelling Archi-tekturstiftung; a. o. Mitglied des BDA; Mitglied der Schwedischen Akademie der Bildenden Künste; seit 2007 Mitglied des Gestaltungsbeirats des Flughafens München; Mitglied der Akademie der Künste Berlin; Dr. h.c. Königliches Institut für Technologie, Stockholm
Bauten und Projekte siehe: unter: www.hoidnwang.de
Erschienen in Architektur & Bau Forum 07/2017