Die Talk-Runde des diesjährigen TurnOn Architekturfestivals widmete sich den scheinbar gegensätzlichen Paradigmen „Stadt und Natur“.
Unter der Moderation von Architektur- und Stadtforscher Robert Temel diskutierten die Landschaftsarchitektin Isolde Rajek, die Schweizer Architektin Astrid Staufer und der Meteorologe und Stadtklimatologe Simon Tschannett. Soweit waren sich alle einig: In Zeiten dringlicher klimatischer Anforderungen braucht es neue Kriterien für die Gestaltung des öffentlichen Stadtraums. Aber welche Rolle soll und kann die Natur dabei spielen?
Extremwetterereignisse zwingen, das Verhältnis von steinerner, versiegelter Stadt und Natur- bzw. Grünfläche zu überdenken. Wiens Grünräume werden zwar mit etwa 50 Prozent der gesamten Stadtfläche angegeben, sind aber sehr ungleich verteilt, viele dicht bebaute Bezirke sind unterversorgt. Die Ansprüche an für alle zugängliche Freiräume steigen. Flächen zu entsiegeln und zu begrünen, braucht aber Zeit. Ein lebenswerter Stadtraum bedarf massiver Eingriffe. Die räumlichen Konsequenzen dieser notwendigen Veränderungen für Stadt, Architektur und Bewohner:innen wurden bei TurnOn angeregt diskutiert.
Seine erste Frage richtete Moderator Robert Temel an die Architektin Astrid Staufer, die ihr Architekturbüro in den 1990er Jahren gründete, zu einer Zeit, als der Diskurs über die europäische Stadt bereits allgegenwärtig war: Ist diese europäische Stadt damals wie heute, eine Stadt ohne Natur?

Ist die Stadt ohne Natur denkbar?
„Es wer zuerst zu definieren, was Natur überhaupt ist. Denn was sich in der Stadt befindet, ist vielmehr kultivierter Freiraum. Die europäische Stadt in Bezug auf die Grünstrukturen gibt es à priori nicht“, meint Staufer. „Es geht um den Kontrast von steinerner und grüner Stadt. Bei allen Eingriffen in das Stadtgefüge sind Ziele transparent zu deklarieren und ein Dialog ist zu führen. Es braucht mehr Grün in den Städten, aber die Frage ist, welches Grün und wie können wir dieses Grün erzielen?“
Auf Temels nächste Frage, ob der städtische Freiraum, wie wir ihn bisher kennen, als Gegenmodell zur Natur zu sehen sei, antwortet Landschaftsarchitektin Isolde Rajek: „Natur ist ein von uns geschaffenes Konstrukt, das wir dabei sind, aufzulösen. Das Problem gewachsener Städte ist die Konkurrenz unterschiedlicher Flächenansprüche. Technischen Anforderungen zu genügen, stellt sich immer wieder als Problem dar, denn für die notwendige Infrastruktur, muss zuerst unter der Erde aufgeräumt werden. Eine funktionierende Umsetzung und die Erhaltung sind aber kostenintensiv“.
Teure Geburtshilfe
„Der Baum ist nur die kleine Spitze des Eisbergs, um Grün überhaupt herstellen zu können, das langfristig seine Aufgabe erfüllen kann. Dessen Wurzelraum ist etwa dreimal größer als bisher und passt unter kein normales Trottoir mehr, wo bisher alle Kanäle und Leitungen verliefen“, ergänzt Astrid Staufer. Sie erzählt am Beispiel München, von der Schwierigkeit, Baumalleen überhaupt zu erhalten. Die passenden Bäume für die gewünschte Kronenüberdeckung von Dreißig Prozent müsse man züchten, sie würden oft geklont. Durch das fehlende diversifizierte Genmaterial gingen die Bäume unter der aktuellen Überhitzung rasch zugrunde. In den Baumschulen würden daher resistente Bäume mit diversifiziertem genetischem Kode gezüchtet und dort regelrecht erzogen, indem sie etwa nur im ersten Jahr Wasser bekämen, um zu lernen, in der Stadt zu überleben.
Aus der Sicht der Stadtklimatologie
Der Meteorologe und Stadtklimatologe Simon Tschannett sieht das Thema Natur in der Stadt aus der Sicht des Naturwissenschaftlers. Phänomene wie Wärme- und Hitzeinseln zeigten die großen Herausforderungen und Zielkonflikte, denn was gegen Hitzeinseln helfe, sei nicht unbedingt gegen Wärmeinseln sinnvoll. Ein weiterer Aspekt, sei die Kaltluft, die in umliegenden Bereichen, vor allem über feuchten Wiesen entstehe und in die Stadt ströme, sie sorge an bestimmten Stellen für Abkühlung. „Eben diese Kaltluft, sehe ich als eine Natur, die in die Stadt kommt“, meint er.
Architektur versus Klimawandelanpassung
“Was muss sich für eine Klimawandelanpassung also räumlich und architektonisch in der Stadt verändern?“, fragt Temel in die Runde. Astrid Staufer antwortet als erste und zieht den 2014 neu gestalteten Sechseläuten Platz am Rande der Zürcher Altstadt heran, zwischen Bellevue und Opernhaus, mit fast 16.000 m2 der zweitgrößte Platz der Schweiz, der sich heute als riesige gepflasterte Fläche zeigt. „Kein einziger Baum steht auf dem Platz. Solchen Unsinn darf man sich nicht mehr erlauben. Es geht nicht mehr darum, Kontraste herauszuschälen oder um das idealistische Bild der italienischen Stadt. Eine andere Kultur lässt sich nicht einfach übertragen. Es geht darum herauszufinden, welches Grün an welchem Ort, auf welche Weise das richtige ist. Grundsätzlich sollen die Böden geöffnet werden und mehr Grün in die Stadt Einzug halten, allerdings unter Einbindung unterschiedlichster Involvierter wie Planer:innen, Nutzer:innen, Politiker:innen”.

Der passende Maßnahmenmix
Es brauche mehr Regulierung ist Tschannett überzeugt. „Ich höre immer wieder, es gäbe zu viele Normen in der Architektur. Wir müssen aber mehr regulieren, um mit der Umgestaltung unserer Städte schneller voranzukommen.“ Zwei Zahlen, würden zeigen, wie drastisch und radikal dies vonstatten gehen müsse: „2024 gab es in Wien 53 Tropennächte, so viel wie noch nie in Wien Innere Stadt. Auf der Wiener Hohen Warte waren es 26 Tropennächte, in denen die Lufttemperatur nicht unter 20 °C fällt – und es gab weniger Hitzetage als Tropennächte. Tiefstwerte steigen, wodurch es noch unangenehmer und heißer wird. Wir verzeichnen in Österreich im Vergleich zum vorindustriellen Niveau knapp drei Grad mehr, das ist ein Grad mehr, als lange Zeit kolportiert und sind damit der im Pariser Klimaabkommen skizzierten Temperaturentwicklung Jahrzehnte voraus. Wir müssen uns so schnell wie möglich anpassen und Veränderungen durchsetzen“, so Tschannett und ergänzt: „Wir müssen unsere Wertehaltungen ändern, uns auf die Klimakrise fokussieren und lernen, mit ihr umzugehen anhand einer klar definierten Regulierung der Klimawandelanpassung, die bei jedem städtebaulichen Projekt, beim Umbau der Bestandsstadt schnell und gut greifen muss“.
Weniger ist mehr
„Eine Stadt braucht steinerne Plätze, sie sind als Orte gesellschaftlich enorm wichtig. Das heißt nicht, dass diese nicht von Bäumen überstanden sein können. Aber flächendeckend kleine Grünbeetchen zu pflanzen, sehe ich als falschen Zugang, der auch klimatisch nicht viel Sinn macht“, wirft Isolde Rajek ein und kontert Tschannett. „Wenn wir mehr Natur in die Stadt bringen wollen, impliziert das weniger Regulierungen, weil vieles mit den aktuellen Gesetzen, nicht umsetzbar ist“. Sich auf Neues einzulassen, naturbasierte Lösungen zu suchen, müsse konkret auf Ort und Situation und auf die Nutzer:innen zugeschnitten werden. „Eine solche Art von Naturlandschaft in der Stadt, könne gar nicht überall gleich aussehen“, betont sie.
Was bedeuten diese notwendigen Veränderungen konkret für die Disziplinen, die an der Gestaltung der Stadt beteiligt sind? Was müsste etwa bei der Planungspraxis öffentlicher Räume in Wien zukünftig im Vordergrund stehen?
„Das Zusammendenken aller Themen, und diese in die ästhetische Gestaltung aufzunehmen, ohne den sozialen Aspekt zu vernachlässigen“, meint Isolda Rajek und unterstreicht die Bedeutung einer Kooperation unterschiedlichster Professionen. Viele positive Beispiele etwa in Kopenhagen oder Schweizer Städten gäbe es bereits, etwa unter Beteiligung von Biologen oder Hydrologen.

Was muss die Stadtpolitik anders machen?
„Wir müssen viel schneller werden, interdisziplinärer, interaktiver“, wirft Simon Tschanett ein. Das aktuelle Regierungsprogramm berge eine große Chance, weil Klimaschutz, Klimawandelanpassung und Kreislaufwirtschaft darin gleichberechtigt vorkämen. Er sei zuversichtlich, dass auch im Klimawandelanpassungsbereich mehr passieren würde, Wien zum Rolemodell für ganz Österreich werden könne und sich vom Bund her positive Möglichkeiten der Zusammenarbeit ergäben.
Und was bedeutendie Veränderungen durch die Klimawandelanpassung für die architektonische Praxis?
„Dass wir unser Denken verändern“, sieht die Architektin Astrid Staufer als essentiell. „Es geht nicht nur um die architektonische Form, sondern um den Raum, den das Gebäude konstituiert. Und es braucht den interdisziplinären Diskurs, um gemeinsam Strategien zu entwickeln.“ Staufer sieht die Lösung darin, sich Schritt für Schritt an die Fragestellungen heranzutasten, neues auszuprobieren. Etwa könnten Baumschulen direkt in der Stadt angesiedelt sein, Bäume in den Töpfen verbleiben, sich dort abhärten, um dann weiter verpflanzt zu werden. Es sollten nicht mehr Regulierungen, sondern Anreize geschaffen werden, unterstreicht sie und zieht das Beispiel der Schweiz heran. Dort sähe etwadas neue Hochhausleitbild vor, den durch einen Neubau beanspruchten Luftraum mit ebenso viel zusammenhängendem Grün auch über private Grundstücke hinweg abzugelten.
Wie sieht die Stadt der Zukunft aus?
„Wir befinden uns in einem Prozess, in dem viel ausprobiert wird. Wohin die Entwicklung geht, bleibt offen. Kopenhagen, wo viel passiert, könnte ein gutes Vorbild sein. Das heißt aber, dass es weniger Regeln geben muss“, sagt Isolde Rajek.
Simon Tschannett ist grundsätzlich optimistisch: „Ich denke, wir schaffen es als Gesellschaft, die Klimawandelanpassung schnell genug umzusetzen, um lebenswerte Städte zu behalten. Allerdings bedeutet die rasante Temperaturentwicklung eine riesige Herausforderung“, sagt er und traut sich angesichts der rapiden Klimaveränderung, die von den meisten noch gar nicht richtig wahrgenommen würde, keine Prognose zu.
Astrid Staufer wünscht sich eine dialogischere und dialektischere Zukunft. „Wir müssen mehr verdichten und dürfen keine weiteren Landressourcen verbrauchen, dazu gibt es in der Stadt schon Limitierungen und Gesetze. Baulich verdichten und kompakter bauen, müsse bedeuten, auch Grün zu verdichten. Individuellen Fläche müssen wir reduzieren und mehr kollektive Grünräume zur Verfügung stellen“ … „und“, ergänzt Isolde Rajek, „dabei, die flächenintensiven Verkehrsflächen massiv reduzieren“.
Zu den Teilnehmer:innen
Isolde Rajek ist als Landschaftsarchitektin tätig. Ihr Studium der Landschaftsplanung an der Universität für Bodenkultur in Wien, schloss sie 2004 mit dem Diplom ab. Sie hat Lehraufträge an der TU Wien, Institut für Städtebau und für Landschaftsarchitektur. 2003 gründete sie gemeinsam mit Oliver Barosch in Wien das Büro Rajek Barosch Landschaftsarchitektur. Sie ist Mitglied des Grundstücksbeirats Wien sowie des Fachbeirats Graz.
Astrid Staufer studierte an der ETH Zürich Architektur bis 1989 und forschte bis 1990 zu den Werken des zeitgenössischen italienischen Architekten Luigi Caccia Dominioni. Von 1990 bis 1992 war sie in einem Architekturbüro in Zürich tätig. 1993 gründete sie gemeinsam mit Thomas Hasler das Büro Staufer und Hasler Architekten in Frauenfeld. Sie ist seit 2011 Professorin für Hochbau und Entwerfen an der TU Wien und Mitglied der Natur und Freiraumkommission der Stadt Zürich.
Simon Tschanett ist Meteorologe. Er studierte an der Uni Wien Meteorologie und gründete 2005 zusammen mit Matthias Ratheiser und Wolfgang Gepp das Unternehmen Weatherpark, das private und öffentliche Auftraggeber:innen die Expertise für Klimawandelanpassung anbietet und bei der Planung von Gebäuden sowie neuen Stadtteilen berät. Simon Tschanett ist seit 2020 Mitglied im Klimarat der Stadt Linz, Österreich, Vorstandsmitglied des Climate Change Centre Austria (CCCA). Seit 2019 ist er Mitglied im Klimabeirat der Stadt Wien und ist Obman des Vereins Klimakonkret.
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