Aus Wim Wenders Plan, 4 Dokumentarvideos zu einem künstlerischen Architekturprojekt in Tokyo zu drehen, wurde ein Spielfilm, der innere Ruhe im Äußeren zeigt und das Tokyo Toilet Projekt als Symbol der Gelassenheit inszeniert.
Ein ungewöhnliches Setting und ein ungewöhnlicher Protagonist, zumindest für einen Spielfilm: Hirayama, Mitarbeiter des Serviceteams von „The Tokyo Toilet“, begleitet in Wenders neuem Spielfilm das Publikum durch eine Sammlung neu errichteter, künstlerisch anspruchsvoller Toiletten im Stadtteil Shibuya. Diese Toiletten waren der eigentliche Anlass, einen Film in Auftrag zu geben. Zunächst war ein Dokumentarfilm geplant, der das architektonische Kunstprojekt präsentieren sollte. The Tokyo Toilet hatte im Jahr 2020, gemeinsam mit der Nippon Foundation, dem Shibuya City Government und der Shibuya Tourism Association 16 renommierte Architektur- und Designbüros mit der Neugestaltung von 17 öffentlichen Toilettenanlagen beauftragt.
Viele bekannte Namen finden sich bei den Ausführenden: Tadao Andō, Kengo Kuma, Toyo Ito, Shigeru Ban, Masamichi Katayama, Nao Tamura, Kazoo Satō, Kashiwa Satō, Nigo®, Fumihiko Maki, Junko Kobayashi, Tomohito Ushiro, Marc Newson, Miles Pennington, Sou Fujimoto und Takenosuke Sakakura. Das Ansinnen der Auftraggeber war, „mit dem Vorurteil aufzuräumen, dass öffentliche Toiletten stinken, dunkel, schmutzig und gefährlich sind, indem man innovative, fantasievolle Designs für die Einrichtungen vorsah. Die Toiletten sollten außerdem für Menschen jeden Alters, Geschlechts und jeder körperlichen Verfassung geeignet sein“, wie auf der Website nachzulesen ist.
Ästhetische Architektur für Sanitäranlagen
Die stylishen Toilettenanlagen werden zum Bühnenbild für die alltäglichen Abläufe.
Shigeru Ban etwa hat für seine Anlage transparent bunte Gebäudehüllen verwendet, die undurchsichtig werden, wenn jemand sich im Innenraum befindet. Der Architekt erläutert seine Idee: „Es gibt zwei Dinge, über die wir uns Sorgen machen, wenn wir eine öffentliche Toilette betreten, vor allem wenn sie sich in einem Park befindet. Das erste ist die Sauberkeit, und das zweite ist, ob sie besetzt ist. Mit der neuesten Technologie wird das Außenglas undurchsichtig, wenn von innen abgeschlossen ist.“ Es gibt auch eine Rundskulptur, die gänzlich mit der Stimme bedient wird. Kazoo Sato und das Disruption Design Team haben sie erfunden: „Nach drei Jahren Forschung, Planung und Design haben wir das Konzept der „Voice Command“-Toilette entwickelt, „Hi Toilet“, bei der alle Befehle per Sprache aktiviert werden. Diese Idee gab es schon lange vor der Einführung von Covid-19, aber Covid 19 beschleunigte die Akzeptanz dieses einzigartigen Benutzererlebnisses im Sinne von ‚kontaktlose Toiletten ‘“. Nao Tamura wiederum schuf ein Design, das von Origata inspiriert ist, einer traditionellen japanischen Methode der dekorativen Umhüllung. Sie sagt: „Als Symbol des Schenkens verkörpert dieses Motiv den Geist der Gastfreundschaft gegenüber den multinationalen Besuchern des Stadtteils Shibuya und trägt meine Vision, einen sicheren Raum zu schaffen, der alle Nutzer:innen einschließt“.
Ein skulptural anmutendes Toilettengebäude mit organisch geschwungenem Eingangsweg hat Sou Fujimoto geschaffen. Jenes von Fumihiko Maki erinnert mit seiner fast schwebend aufgesetzten Dachbewegung hingegen an historische Architektur.
Umgang mit Allgemeingut
Die schöne Gestaltung dieser Anlagen mutet wie ein Geschenk an die Öffentlichkeit an, gleichzeitig scheint sie dazu aufzufordern, mit ähnlicher Wertschätzung zu reagieren. „Öffentliche Toiletten können schmutzig werden, wenn sie nicht regelmäßig gereinigt werden, aber es fällt den Menschen schwer, etwas zu verderben, das sorgfältig gereinigt wurde. Wir sind davon überzeugt, dass die Benutzer die Sauberkeit der Toiletten zu schätzen wissen, wenn sie sie jeden Tag sauber halten, und dass sie auch an andere denken, die die Toiletten nach ihnen benutzen werden“, heißt es auf der Website von Tokyo Toilet. Ein Mitglied des Reinigungspersonals formuliert seine Aufgabe so: „Die Toiletten, die zu The Tokyo Toilet gehören, bestehen aus verschiedenen Materialien wie Edelstahl, Glas und gestrichenen Wänden, so dass es notwendig ist, einzigartige und geeignete Wege für jedes Design zu finden. Um sicherzustellen, dass diese öffentlichen Toiletten lange genutzt werden können, achten wir auf die Auswahl der richtigen Reinigungsmittel und -werkzeuge, die die Materialien nicht angreifen.“ Ein weiteres beachtliches Detail wird erzählt: Die Uniformen des Personals führen zu mehr Interaktion – einige Besucher:innen lassen sich mit den Angestellten fotografieren, bringen ihnen Getränke oder Snacks.
„Die Toiletten sind ein Symbol für Japans weltberühmte Gastfreundschaft“, heißt es auf der Website von The Tokyo Toilet. Wer schon in Japan war, erinnert sich an den Kulturschock, wenn man nach Europa zurückkommt, wo man öffentliche Toilettenanlagen tunlichst zu vermeiden versucht. Wie viel oder wenig Respekt man der Gesellschaft und der anonymen Infrastruktur entgegenbringt, lässt sich hier erahnen. Etwas, das „niemandem“ gehört, braucht nicht sorgsam behandelt werden. An nachfolgende Benutzer:nnen denkt man ohnehin nicht. In Japan hingegen erwarten einen an jeder U-Bahn-Station gepflegte, selbstverständlich kostenlose Toilettenanlagen, die obendrein kleine Nischen mit Spiegeln aufweisen, so dass man sich unabhängig von neugierigen Blicken frisieren kann. Das hat etwas mit einer grundsätzlichen Einstellung und Höflichkeit zu tun, so viel ist spürbar. Manche nennen es „Achtsamkeit“.
Ruhepole der Schönheit
Was inspirierte nun zu einem Spielfilm und der Filmfigur, und wie kam es zur Kooperation mit einem Filmregisseur, wenn es eigentlich um die Präsentation eines Architekturprojekts gehen sollte? Wim Wenders war zunächst für die Kreation eines Dokumentarfilms über das Kunstprojekt vorgesehen. Was interessierte ihn daran? „Zum einen das starke Gefühl von „Service“ und „Gemeinwohl“ in Japan, zum anderen die schiere architektonische Schönheit dieser öffentlichen Sanitäranlagen. Ich war erstaunt, wie sehr „Toiletten“ Teil der Alltagskultur sein können und nicht nur eine fast peinliche Notwendigkeit.“ Für Wenders hat das Projekt zudem einen hohen sozialen Wert, „denn eine Toilette ist ein Ort, an dem alle gleich sind. Es gibt keine Reichen und Armen, keine Alten und Jungen, jeder ist ein Teil der Menschheit“.
Statt einer ästhetischen Dokumentation erhielten die anspruchsvollen urbanen Toiletten also einen Protagonisten, der ihren Erhalt mit der gleichen Sorgfalt übernimmt wie die Pflege seiner kleinen Pflanzen. Wenders entwickelte mit seinem japanischen Co-Autor Takuma Takasaki diese Figur. Das Filmpublikum teilt den stark ritualisierten Alltag von Hirayama. Man begleitet ihn, wie er mit seinem Kleinbus und Reinigungsmaterial von einer Station zur anderen fährt und dort jeweils für Sauberkeit und einladende Atmosphäre sorgt.
Hirayama hat sein Leben so eingerichtet, dass er immer wieder Momente im Einklang mit sich selbst und seiner Umwelt bewusst erlebt. Das beginnt schon morgens, wenn er seine Sammlung von Pflanzen mit Wasser besprüht, bevor er das Haus verlässt und sich einen Kaffee auf die Fahrt mitnimmt. Dann wird aus seinem wohlgeordneten Kassettensortiment Musik ausgewählt, Nina Simone etwa, Otis Redding oder The Kinks. Später gibt es weitere besondere Augenblicke: wenn er die Sonnenstrahlen durch das Blattlaub glitzern sieht, ein Motiv, das er wieder und wieder fotografisch festhält. Im Park verbringt er seinen Mittag, isst ein Sandwich, wenn er vom Toilettenreinigen Pause macht. Wichtig sind auch der regelmäßige Besuch im Sento, dem städtischen Bad, und die abendliche Lektürezeit vor dem Schlafengehen. Arbeit, Leben und Begegnungen mit anderen sind in einen Rhythmus eingebaut, der einer sinnhaften Zirkularität zu folgen scheint. Genau hier liegt möglicherweise die Magie des Films – in dieser unaufgeregten Präsenz, diesem spürbaren Wissen um Zusammenhänge.